Ein neues Nest für den Drachen#
Der chinesische Traum begann 1999 mit der Aufrüstung von Chongqing zum Zentrum der Modernisierung. Mittlerweile ist es eine der wichtigsten Städte Chinas. #
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 7. September 2017)
Von
Günter Spreitzhofer
Chongqing ist nicht irgendeine Stadt in Mittelchina, die zufällig irgendwie wichtig wird. Sie hat eine große Geschichte. An der Schnittstelle von Jangtse, Asiens größtem Fluss und wichtigster Schifffahrtsweg landeinwärts, und zahlreichen Handelsrouten der Seidenstraße gelegen, wurde die Stadt 1891 zum ersten Inlandshafen, der für den Außenhandel geöffnet wurde. Während des Zweiten Weltkrieges war Chongqing sogar Regierungssitz, der sicher vor ausländischer Annexion schien: Ab 1938 wurden zahlreiche Industriebetriebe von der Ostküste hierher verlegt, bis japanische Geschwader den Ballungsraum im rohstoffreichen Roten Becken in Schutt und Asche bombten.
Bis 1949 unter Chiang Kaishek Hochburg der chinesischen Nationalisten, wurde Chongqing 1954 der Provinz Sichuan einverleibt und büßte während der Kulturrevolution (1966-1976) bitter für ihre anti-kommunistische Vergangenheit. Kein Wunder, dass kaum eine andere Region die ersten privatwirtschaftlichen Lockerungen unter Zhao Ziyang und später Deng Xiaoping derart effektiv zu nutzen verstand – Chongqing wurde 1992 zur ersten offenen Stadt am Jangtse erklärt, wo das ambitiöse Drei- Schluchten-Dammprojekt allmählich konkrete Gestalt annahm: eine stinkende, ölige, rauchige Stadt, mit der die Zentralregierung in Peking viel vor hatte.
Reicher Osten, armer Westen #
Noch im Jahr 2000 verdienten chinesische Stadtbewohner durchschnittlich dreimal mehr als Bauern. Im Jahr 2015 schon fünfmal so viel – gesellschaftlicher Sprengstoff, weil sich der Reichtum des Ostens nicht mehr verbergen ließ und auch in den Steppen Gansus und den Wüsten Xinjiangs die glitzernden Skylines TV-Thema waren: Die Go-West-Politik, eine Art Marshall-Plan zur Entwicklung der inner-chinesischen Peripherie, sollte Industrie und Wohlstand so schnell ins Landesinnere bringen, dass sich ein Zuzug in die funkelnden Neon-Traum-Landschaften von Shanghai bis Shenzhen nicht mehr rechnen würde. Chongqing wurde der Brückenkopf.
Seit 1999 hat sich China das Programm rund 200 Milliarden Euro kosten lassen, allein in Chongqing über 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und 1,6 Millionen Bauern zu Arbeitern umgeschult. Es gibt dort inzwischen über 300 Außenhandelsunternehmen, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit mehr als 140 Ländern und Regionen der Welt aufgenommen haben. 120 der 500 Top-Unternehmen der Welt haben hunderte Unternehmen und Industrieparks gegründet. Changan baute hier den Ford Mondeo, Lifan setzt auf Fertigungsstraßen von BMW; Aokang fertigt eine Million Paar Schuhe jährlich, Haier produziert Kühlschränke, HP und BASF sind auch schon lange da. ABB konstruiert die größten Trafos der Welt, für das größte Wasserkraftwerk der Welt.
Das Herzstück bildet die Sonderwirtschaftszone Liangjiang, ein ostasiatisches Silicon Valley der Hochtechnologie, die bis 2020 fertig sein soll – eine Stadt in der Stadt, wie Kommunikationschef Zhang Li sagt, der hier ausschließlich strategische Wachstumsindustrien ansiedeln will. Dazu zählen Robotik und Smart Cars, das Internet der Dinge, Biomedizin und Umweltschutz.
Lohnkosten, Steuerbelastung und Grundstückspreise sind hier deutlich geringer als an Chinas Ostküste, Energieversorgung und Zugänglichkeit für Containerschiffe scheinen durch das Drei- Schluchten-Projekt gesichert: 10.000-Tonnen-Frachter schaffen es seither über 1500 km flussaufwärts bis Chongqing, dem „Drachenschwanz“ am Westende des 600-km-Stausees, der seit der offiziellen Fertigstellung 2009 nicht weiter steigen wird. Die Transportkosten bis Shanghai, dem „Drachenkopf“, könnten um ein Drittel sinken. Und die Gesamttonnage am Fluss hat sich verfünffacht, auch wenn die Megaschleuse am 175 Meter hohen Damm bei Sandouping kaum genutzt und kostensparend umgangen wird.
„2010 werden wir das wirtschaftliche Gewicht Shanghais erreicht haben, 2017 dasjenige Hongkongs“, sagte einst Huang Qifan, der Bürgermeister von Chongqing und stellvertretender Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Das mit Shanghai hat nicht ganz geklappt, und so war Diversifizierung angesagt: Der generalstabsmäßige Wandel von der dreckig-grauen Stahlstadt zur nachhaltig-grünen Muster-Metropole hat oberste Priorität, nicht ohne Grund. Im Winter legt sich über Monate Nebel über das hügelige Häusermeer am Zusammenfluss von Jangtse und Jialing, wo die Smogglocke seit den (Schwer-) Industrieansiedlungen der 1950er auch im Sommer kaum je verschwindet. Noch 1999 waren Regenschirme nach einigen Wochen durch den sauren Regen unbrauchbar. Selbst 2004 enthielt die Stadtluft noch sechsmal mehr krebserregende Stoffe als die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation vorgeben.
Schadstoff-Entfernung #
Das musste sich rasch ändern. Und so werden die innerstädtischen Kohlekraftwerke und Zementfabriken sukzessive ins Umland ausgelagert, mit politischem Druck und steuerlichen Anreizen: Bei Chongqing Iron & Steel kostete es fünf Jahre und drei Milliarden Euro, bis einer der Schlüsselbetriebe der Region endlich aus dem Zentrum draußen war. Im alten Firmengelände entstehen jetzt Apartmentblocks für Software Firmen, und die lokale Kunstszene hat schon ihr Interesse an den Schornsteinen angemeldet.
Alt ist schick geworden, zumindest in Jiangfangbei, dem Stadtzentrum rund um das Denkmal der Befreiung, wo immer noch Schmorfrosch und Schweineschnauzen, Tigerfellschoten und Schlangenbohnen aus Ingwer um ein paar Yuan gegart werden – vor den getönten Scheiben von Armani und Ferrari-Outlets. Abends, wenn der Smog sich mit den Nebeln unten vom Fluss vermischt, verschwindet das reiche und schöne China unter der Erde: In den Hotspots des Nightlife, wie 023Bar oder Sohu Club, wo eine Flasche Johnnie Walker Gold Label so viel kostet wie einer der Wanderarbeiter in einem Vierteljahr verdient. Doch die schlafen um die Zeit schon, in irgendeinem Baucontainer am Rande der Stadt. Oder daneben.
Wenn China ein überdimensionales Versuchslabor für ein neues Gesellschaftsmodell sein will, ist Chongqing sein erstes großes Experiment. 1997 wurde die Stadt Chongqing der Provinz Sichuan ausgegliedert und gemeinsam mit 43 Umlandgemeinden – die meisten davon entlang des lange geplanten Jangtse-Stausees – zur regierungsunmittelbaren Stadtgemeinde erklärt.
Die Fläche des neuen Konglomerats entspricht dem österreichischen Staatsgebiet, beherbergt 33 Millionen Menschen und gilt als (flächenmäßig) größte Stadt der Welt, wenn auch in der eigentlichen Kernstadt bloß rund 5 Millionen Menschen und im unmittelbaren Ballungsraum rundum etwa 13 Millionen leben. Doch das ändert sich täglich. Und Siedlungsgrenzen sind kaum mehr auszumachen.
Enorme Probleme #
Der Bauboom scheint nicht zu bremsen. Derzeit hat die Stadtregierung auch sichtlich kaum Interesse daran, der suburbanen Zersiedlung bauwütiger Immobilienkonzerne Einhalt zu gebieten: Diese haben, quasi nebenbei und nicht unerwünscht, das Stadtzentrum von den Bangbangjun be freit, Heerscharen zerlumpter Bauern aus ganz Westchina, die früher überall darauf warteten, mit ihren Bambus-Tragestangen CD-Player und Mehlsäcke vom Hafen in die Stadt und umgekehrt zu schleppen. Die „Armee der Stöcke“, in braunen Stoffturnschuhen und abgewetzten Militärjacken, wird derzeit dringend für die Errichtung neuer gesichtsloser Glas-Beton- Türme benötigt, die im Metropolgebiet überall aus den Hügeln schießen.
Dazu kommen offiziell rund 200.000 arbeitslose Fabriksarbeiter, deren Firmen geflutet wurden oder die in den maroden Staatsbetrieben nicht mehr gebraucht wurden. Vorsichtige Schätzungen kalkulieren weitere rund 500.000 ungelernte und volkswirtschaftlich überflüssige Industriearbeiter, die mit Bauen und Betonieren beschäftigt werden, um soziale Unruhen im Keim zu ersticken. Vor allem in den Vorstädten bleibt nichts, wie es war – die meisten Bauten aus den 1980ern und älter werden abgerissen, die Flächen begradigt und vielstöckige Neubauten errichtet. Dass viele der neuen Wolkenkratzer derzeit keiner braucht, scheint Nebensache.
Entgiftung und Erdrutsche #
Gezielte Zuwanderung soll den Schwung der Ostküste auch stromaufwärts ins Landesinnere tragen. Über eine Million sind allerdings nicht ganz freiwillig da, weil sie im Zuge des Dammbaus und des folgenden Aufstaus ab 2003 zwangsumsiedeln mussten. Weitere vier Millionen werden bis 2020 ihre Häuser und Dörfer entlang der neuen, dutzende Meter höheren Stauseeufer verlassen (müssen), weil die neue, künstliche Kloake nur fragwürdige Lebensqualität bieten kann: Mit der Flutung des historischen Kernraumes Zentralchinas gingen nicht nur Kulturgüter verloren, sondern verschwanden auch Dörfer, Fabriken, Deponien und Chemietanks unter den Wassern, deren geringe Fließgeschwindigkeit bis hin zum Damm kaum mehr eine Entgiftung der braunen Brühe zulässt.
Die Jahrtausende alten Reisterrassen unten gibt es nicht mehr, und weiter oben wird Landwirtschaft immer schwieriger: Auch die Befestigung der Ufer – mit tausenden Quadratmeter großen Stahlnetzen – kann dauernde Erdrutsche und massive Erosion nicht verhindern. Aber sie schafft Arbeitsplätze, und das ist derzeit vorrangig.
Eine Million Kameras sollen in Hinkunft Chongqings Straßen kontrollieren, gesteuert mit brandneuen Laptops made in town – jedes dritte weltweit verkaufte Notebook stammt mittlerweile von hier. Die offiziellen Parteizeitungen loben das „Chongqinger Modell“: Das Experiment am Anfang der Kloake geht in die Endphase, seit der Drache mit Armani und Johnnie Walker Freundschaft geschlossen hat.