Page - 56 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 56 -
Text of the Page - 56 -
Diotima
Die Schwächsten reißt das Schicksal
doch hinaus.
Frau von Staël schreibt in ihr Tagebuch: »Francfort est une très jolie ville;
on y dîne parfaitement bien, tout le monde parle le Français et s’appelle
Gontard.« Bei einer dieser Familien Gontard ist der gescheiterte Dichter als
Magister, als Hauslehrer zum achtjährigen Knaben engagiert: hier wie in
Waltershausen erscheinen seinem schwärmerischen, leicht entzündbaren Geist
vorerst alle als »sehr gute und nach Verhältnis seltene Menschen«, er fühlt
sich wohl, soviel auch von der ursprünglichen Triebkraft schon in ihm zerstört
ist. »Ich bin ohnedies wie ein alter Blumenstock«, schreibt er elegisch an
Neuffer, »der schon einmal mit Grund und Scherben auf die Straße gestürzt
ist und seine Sprößlinge verloren und seine Wurzeln verletzt hat und nur mit
Mühe in frischen Boden gesetzt und kaum durch ausgesuchte Pflege vom
Verdorren gerettet.« Und er weiß selbst genau um diese »Zerstörbarkeit« –
sein tiefstes Wesen kann nur in idealischer, in poetischer Luft atmen, in einem
imaginären Griechenland. Nicht die eine oder die andere Wirklichkeit, nicht
das eine oder das andere Haus, weder Waltershausen noch Frankfurt noch
Hauptwyl waren sonderlich hart gegen ihn: es genügt, daß sie
Wirklichkeitssphäre waren, um für ihn zur tragischen zu werden. »The world
is too brutal for me«, sagt einmal sein Bruder Keats. Diese zarten Seelen
vertrugen eben keine andere als eine dichterische Existenz.
So drängt sich das poetische Gefühl unweigerlich gegen die einzige Gestalt
in diesem Kreis, die er bei aller Nähe doch idealisch traumhaft als Botin jener
»andern Welt« zu empfinden vermag, die Mutter jenes Knaben, Susanne
Gontard, seine Diotima. Wirklich glänzt vom marmornen Bilde, wie eine
Büste es uns überliefert, griechische Linienreinheit in diesem deutschen
Antlitz, und so sieht sie Hölderlin von der ersten Stunde. »Eine Griechin,
nicht wahr«, flüstert er Hegel begeistert zu, als jener sie in ihrem Hause
erblickt: sie stammt für ihn aus seiner eigenen, unirdischen Welt und ist, wie
er, fremd und in schmerzlicher Heimsehnsucht unter die harten Menschen
geraten,
Du schweigst und duldest, denn sie verstehn Dich nicht,
Du edles Leben! siehest zur Erd und schweigst
Am schönen Tag, denn ach! umsonst nur
Suchst Du die Deinen im Sonnlichte …
Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind.
56
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199