Page - 125 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Welt und Wesen
Froh kann ich nur in meiner eigenen Gesellschaft sein,
weil ich da ganz wahr sein darf.
Aus einem Brief
Kleist hat wenig von der Wirklichkeit gewußt, aber unendlich viel von der
Wesenheit: er lebte fremd, ja feindlich inmitten seiner Zeit und Sphäre,
verstand der anderen Menschen Lauheit und Verbindlichkeit kaum mehr, als
sie seine eigenbrötlerische Stockigkeit, seine fanatische Übertreiblichkeit.
Seine Psychologie war wehrlos, vielleicht sogar augenlos gegenüber dem
allgemeinen Typus, gegen alle Erscheinungen mittleren Maßes: erst wo er
Gefühle gewaltsam vergrößert, Menschen in höhere Dimensionen steigert,
beginnt sein seherischer Sinn. Nur in den Leidenschaften, im Übermaß der
innern ist er der äußern Welt verbunden, nur dort, wo die Natur der Menschen
dämonisch, wo sie abgründig und unvermutet wird, hört seine Isolierung auf:
wie manche Tiere sieht er nicht klar im Licht, sondern erst im Zwitterschein
des Gefühls, in Nacht und der Dämmerung des Herzens. Das Unterste, das
Vulkanisch-Feuerflüssige der Menschennatur scheint seiner wahren Sphäre
einzig glühend verwandt. Er war zu ungeduldig, um kühl zu beobachten, um
auf die Dauer realistisch zu experimentieren – so beschleunigt er durch
Erhitzung das Wachstum der Geschehnisse zu einer wilden Tropik: nur das
Glühende, der leidenschaftliche Mensch wird ihm zum Problem. Im letzten
hat er keine Menschen geschildert, sondern sein Dämon hat den Bruder in
ihnen hinter aller Irdischkeit erkannt, die Dämonie der Gestalten, die
Dämonie der Natur.
Darum sind alle seine Helden so gleichgewichtslos: sie sind alle mit einem
Teil ihres Wesens schon über die Sphäre des täglichen Lebens hinaus, jeder
einzelne ein Übertreiber seiner Leidenschaft. Alle diese unbändigen Kinder
seiner exzessiven Phantasie sind, wie Goethe von der Penthesilea sagte, »aus
einem sonderbaren Geschlecht«, und jeder trägt seines Wesens Zug, das
Nicht-Konziliante, das Herbe, Eigenwillige und Unbeeinflußbare: auf den
ersten Blick erkennt man ihr Kainszeichen, daß sie zerstören müssen oder
selbst zerstört werden. Alle haben sie diese sonderliche Mischung von Heiß
und Kalt, von Zuwenig und Zuviel, von Brunst und Scham, von Überfließen
und Verhalten, dies Wetterwendische und Wetterleuchtende, die bis zum Blitz
elektrisch geladenen Nerven. Alle beunruhigen sie selbst den, der sie lieben
will (wie Kleist selbst seine Freunde): deshalb ist ihr Heldentum nie populär,
nie verständlich für das deutsche Volk geworden, niemals ein Schullesebuch-
Heldentum. Selbst das Käthchen, das nur einen Schritt noch ins Banale, ins
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199