Page - 103 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Pathologie des Gefühls
Verflucht das Herz, das sich nicht
mäßigen kann.
Penthesilea
Die Ärzte, die, von Berlin herbeigeeilt, den noch warmen Leichnam des
Selbstmörders untersuchen, finden den Körper gesund und lebenskräftig. In
keinem Organ ist ein Gebrest sichtbar und nirgends andere Todesurteile
erkennbar als die gewaltsame, als die Kugel, die sich der Verzweifelte mit
zielsicherer Hand in den Schädel gejagt. Um aber den Befund mit
irgendeinem gelehrten Wort zu verbrämen, schreiben sie in das Protokoll, der
»p.p. Kleist« sei ein »sanguino-cholericus in summo gradu« gewesen und daß
man »auf einen krankhaften Gemütszustand« schließen könnte. Man sieht:
verlegene Worte, ein Befund a posteriori ohne Zeugnis und Beweis. Nur die
Vorbedingungen ihres Protokolls bleiben uns psychologisch wesenhaft,
nämlich, daß Kleist körperlich gesund und lebensfähig, daß seine Organe
durchaus intakt waren. Dem widersprechen auch die andern Zeugnisse seiner
Biographie nicht, die von geheimnisvollen Nervenzusammenbrüchen, von der
Stockigkeit seiner Verdauung, von mancherlei Leiden häufig berichten.
Kleistens Krankheiten waren (um einen Terminus der Psychoanalyse zu
gebrauchen) wahrscheinlich mehr Flucht in die Krankheit als eigentliches
Gebrest, vehemente Ruhebedürfnisse des Leibes nach den ekstatischen
Überspannungen der Seele. Seine preußischen Ahnen hatten ihm eine solide,
fast allzu harte Physis vererbt: sein Verhängnis stak nicht im Fleisch, zuckte
nicht im Blut, sondern schwärmte und gärte unsichtbar in seiner Seele.
Aber er war auch eigentlich nicht ein Seelenkranker, eine hypochondrische,
misanthropisch-verdüsterte Natur (obwohl Goethe einmal absprechend sagt,
»sein Hypochonder sei doch schon gar zu arg«). Kleist war nicht belastet, war
nicht wahnsinnig, höchstens überspannt, wenn wir das Wort im sinnlichsten,
wörtlichsten Sinn seines Ursprungs richtig aussprechen wollen (und nicht im
verächtlichen, wie es der aufgeplusterte Primanerdichter Theodor Körner bei
der Nachricht seines Freitodes vom »überspannten Wesen des Preußen«
handhabt). Kleist war überspannt im Sinne von: zu viel gespannt, er war von
seinen Gegensätzen ständig auseinandergerissen und beständig bebend in
dieser Spannung, die, wenn der Genius sie berührte, gleich einer Saite
schwang und klang. Er hatte zu viel Leidenschaft, eine maßlose, zügellose,
ausschweifende, übertreiberische Leidenschaft des Gefühls, die beständig
zum Exzeß drängte und doch nie in Wort oder Tat durchbrechen konnte, weil
eine ebenso stark aufgetriebene und übertriebene Sittlichkeit, ein kantisches,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199