Page - 199 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Der Erzieher zur Freiheit
Größe heißt: Richtung geben.
»Nach dem nächsten europäischen Kriege wird man mich verstehen« –
mitten aus den letzten Schriften springt dieses prophetische Wort. Denn
wirklich, den wahren Sinn, die historische Notwendigkeit des großen
Mahners versteht man erst aus dem gespannten, unsicheren und gefährlichen
Zustand unserer Welt um die Jahrhundertwende: in diesem atmosphärischen
Genie hat sich der ganze Druck der moralischen Dumpfheit Europas
gewaltsam entladen – das herrlichste Gewitter des Geistes vor dem
furchtbarsten Gewitter der Geschichte. Nietzsches »weitdenkender« Blick sah
die Krise, indes die andern sich an allen gefälligen Feuern der Phrase häuslich
wärmten, und sah ihre Ursache: die »nationale Herzenskrätze und
Blutvergiftung, um derentwillen sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit
Quarantänen absperrt«, den »Hornviehnationalismus« ohne höheren
Gedanken als den selbstischen der Historie, indes ungestüm alle Kräfte schon
zu höherer, zu zukünftiger Verbindung drängten. Und zornig bricht die
Verkündigung einer Katastrophe aus seinem Mund, wie er die krampfigen
Versuche sieht, »die Kleinstaaterei Europas zu verewigen«, eine Moral zu
verteidigen, die nur auf Interessen und Geschäft beruht. »Dieser absurde
Zustand soll nicht mehr lange dauern«, schreibt sein Finger feurig an die
Wand, »das Eis, das uns trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den
warmen gefährlichen Atem des Tauwinds«. Niemand hat so wie Nietzsche
das Knistern im europäischen Gesellschaftsbau gefühlt, niemand so
verzweifelt in einer Zeit optimistischer Selbstgefälligkeit den Schrei zur
Flucht, zur Flucht in die Redlichkeit, in die Klarheit, zur Flucht in die
höchste intellektuelle Freiheit über Europa hingeschrien. Keiner so stark
gefühlt, daß eine Zeit abgelebt und abgestorben war und in tödlicher Krise ein
Neues und Gewaltsames beginnt: nun erst wissen wir es mit ihm.
Diese tödliche Krise, er hat sie tödlich vorgedacht, tödlich vorgelebt: das ist
seine Größe, sein Heldentum. Und die ungeheure Spannung, die seinen Geist
ins Äußerste quälte und schließlich auseinanderriß, band ihn mit höherem
Element: sie war nichts anderes als das Fieber unserer Welt, ehe die Blutbeule
aufbrach. Immer fliegen ja Sturmvögel des Geistes den großen Revolutionen
und Katastrophen voraus, und der dumpfe Glaube des Volkes, der vor Kriegen
und Krisen im höheren Element Kometen erscheinen und ihre blutige Bahn
ziehen läßt, dieser abergläubische Glaube hat eine Wahrheit im Geist.
Nietzsche war ein solches Fanal im höheren Element, das Wetterleuchten vor
dem Gewitter, das große Brausen oben in den Bergen, ehe der Sturm in die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199