Page - 100 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Bildnis des Bildnislosen
Ich weiß nicht, was ich Dir über mich
unaussprechlichen Menschen sagen soll.
Aus einem Brief
Wir haben soviel wie kein Bildnis von ihm. Die höchst ungelenke Miniatur
und das zweite, gleichfalls sehr minderwertige Porträt zeigen ein alltägliches,
rundes Knabengesicht für den schon erwachsenen Mann, irgendeinen jungen
deutschen Menschen mit schwarzem, fragendem Blick. Nichts deutet den
Dichter darin oder bloß einen geistigen Menschen, kein Zug lockt die
Neugier, die Frage auf nach der Seele unter diesem kalten Antlitz: man geht
vorbei, ahnungslos, fremd, unbefriedigt, ohne Neugier. Kleistens Innen saß zu
tief unter der Haut. Sein Geheimnis war nicht zu zeichnen und nicht zu malen
aus seinem Gesicht.
Es ist auch nicht erzählt. Alle Wesensberichte seiner Zeitgenossen, selbst
der Freunde, sind dürftig und sämtlich wenig sinnlich. Man spürt nur eines
übereinstimmend aus allen: daß er unscheinbar, verborgen, von einer ganz
seltsamen Unauffälligkeit in seinem Wesen wie in seinem Gesicht war. Er
hatte nichts, was die Menschen um ihn zur Aufmerksamkeit zwang, er reizte
den Maler nicht zur Zeichnung, er verlockte nicht die Dichter zum Bericht.
Etwas Lautloses, Unbemerkbares, merkwürdig Unbetontes, etwas nicht nach
außen Dringendes muß in ihm gewesen sein, eine Undurchdringlichkeit
ohnegleichen. Hunderte sprachen mit ihm, ohne zu ahnen, daß er ein Dichter
war; Freunde und Gefährten begegneten ihm Jahr und Jahr, ohne ein einziges
Mal der Begegnung schriftlich, brieflich Erwähnung zu tun: kein Dutzend
anekdotischer Schilderungen sind aus den vierunddreißig Jahren seines
Lebens beisammen. Man erinnere sich, um besser das Schattenhafte von
Kleistens Vorübergehen an seiner Generation zu fühlen, an Wielands Bericht,
wie er Goethes Ankunft in Weimar schildert, den Feuerstreifen seiner
Existenz, der jedem, dem er nur von ferne zuleuchtet, die Augen blendet; man
gedenke der Bezauberung, die Byron und Shelley, die Jean Paul und Victor
Hugo über die Zeit hinstrahlen und die sich tausendfach in Wort, Brief und
Gedicht verrät. Niemand setzt auch nur die Feder an, eine Begegnung mit
Kleist aufzuzeichnen; die drei Zeilen Clemens Brentanos sind noch das
deutlichste, sinnlichste Porträt, das wir schriftlich besitzen: »ein untersetzter
Zweiunddreißiger mit einem erlebten runden stumpfen Kopf, gemischtlaunig,
kindergut, arm und fest«. Selbst sie, diese nüchternste Beschreibung, zeichnet
noch mehr den Charakter als das Bild. Alle haben an seinem Wesen
vorbeigesehen, kein einziger ihm in die Augen geschaut. Wem er erscheint,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199