Page - 166 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Leidenschaft der Redlichkeit
Nur ein Gebot gilt dir: Sei rein.
»Passio nuova oder Leidenschaft der Rechtlichkeit«, so sollte der Titel
eines von Nietzsche früh geplanten Buches lauten. Er hat es nie geschrieben,
aber – was mehr ist – er hat es gelebt. Denn leidenschaftliche Redlichkeit,
eine fanatisch, eine passionierte, bis zur Qual emporgespannte Wahrhaftigkeit
ist die schöpferische Urzelle von Nietzsches Wachstum und Verwandlung.
Redlichkeit, Rechtlichkeit, Reinlichkeit – man ist ein wenig überrascht,
gerade bei dem »Amoralisten« Nietzsche keinen absonderlicheren Urtrieb zu
entdecken als gerade, was auch Bürger stolz ihre Tugend nennen –
Ehrlichkeit, Redlichkeit bis ans kühle Grab, eine rechte und echte Armeleute-
Tugend des Geistes also, ein durchaus mittleres und konventionelles Gefühl.
Aber bei Gefühlen ist die Intensität alles, der Inhalt nichts; und dämonischen
Naturen ist es gegeben, auch den längst eingefriedeten und temperierten
Begriff noch einmal empor in eine unendliche Anspannung zurückzureißen.
Sie geben selbst den unbetontesten, den abgenutztesten Elementen das
Feuerfarbene und Ekstatische des Überschwangs: was ein Dämonischer
ergreift, wird immer wieder neu chaotisch und voll unbändiger Gewalt.
Darum hat die Redlichkeit eines Nietzsche nicht das mindeste zu tun mit der
ins Korrekte abgeflauten Rechtlichkeit der Ordnungsmenschen – seine
Wahrheitsliebe ist ein Wahrheitsdämon, ein Klarheitsdämon, ein wildes,
jagdhaftes, beutegieriges Raubtier mit den feinsten Instinkten der Witterung
und den gewalttätigsten der Raublust. Eine Nietzsche-Rechtlichkeit hat nicht
ein Zollbreit mehr gemein mit dem haustierhaften, gezähmten, durchaus
temperierten Vorsichtsinstinkt der Händler und ebensowenig mit der
vierschrötigen bullenhaften Michael-Kohlhaas-Redlichkeit mancher Denker,
die, mit Scheuklappen, nur auf eine, nur auf ihre Wahrheit tollwütig
losstürzen. So gewalttätig, so brutal oft Nietzsches Wahrheitsleidenschaft
ausbrechen mag, so ist sie doch immer zu nervenhaft, zu kultiviert, um je
borniert zu werden: niemals rennt sie sich fest, niemals hakt sie sich ein,
sondern durchaus flammenhaft zuckt sie weiter von Problem zu Problem,
jedes aufzehrend und durchleuchtend und doch von keinem gesättigt. Herrlich
ist diese Zweiheit: nie setzt bei Nietzsche die Leidenschaft aus; niemals die
Redlichkeit. Vielleicht hat noch nie ein so großes psychologisches Genie
gleichzeitig so viel ethische Stetigkeit, so viel Charakter gehabt.
Darum ist Nietzsche zum Klardenker ohnegleichen prädestiniert: wer
selber Psychologie als eine Leidenschaft versteht und betreibt, empfindet sein
ganzes Wesen mit jener Wollust, die man einzig Vollendetem entgegenbringt.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199