Page - 189 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Die siebente Einsamkeit
Ein großer Mensch wird gestoßen,
gedrückt, hinaufgemartert zu seiner
Einsamkeit.
»O Einsamkeit, du meine Heimat Einsamkeit« – aus der Gletscherwelt der
Stille tönt dieser schwermütige Gesang. Zarathustra dichtet sich sein
Abendlied, sein Lied vor der letzten Nacht, sein Lied von der ewigen
Heimkehr. Denn Einsamkeit, war sie nicht immer des Wanderers einzige
Heimstatt, sein kalter Herd, sein steinernes Dach? In unzähligen Städten ist er
gewesen, auf unendlichen Fahrten des Geistes; oft hat er versucht, ihr zu
entweichen in der anderen Land – aber immer kehrt er zu ihr zurück,
verwundet, ermattet, enttäuscht, zu seiner »Heimat Einsamkeit«.
Aber da sie immer mit ihm gewandert, dem Wandelbaren, hat sie sich
selber gewandelt, und er erschrickt nun, wie er ihr ins Antlitz blickt. Denn sie
ist ihm allzu ähnlich geworden im langen Beieinandersein, härter, grausamer,
gewalttätiger gleich ihm selbst, sie hat das Wehetun gelernt und das
Wachstum ins Gefährliche. Und wenn er sie zärtlich noch Einsamkeit nennt,
seine alte, geliebte, gewohnte Einsamkeit, so ist es längst ihr Name nicht
mehr: sie heißt Vereinsamung, diese letzte, diese siebente Einsamkeit, und ist
kein Alleinsein mehr, sondern ein Alleingelassensein. Denn es ist furchtbar
leer geworden um den letzten Nietzsche, grauenhaft still: kein Eremit, kein
Wüstenanachoret, kein Säulenheiliger war so verlassen; denn sie, die
Fanatiker ihres Glaubens, haben noch ihren Gott, dessen Schatten in ihrer
Hütte wohnt und von ihrer Säule fällt. Er aber, »der Mörder Gottes«, hat nicht
Gott und nicht Menschen mehr: je mehr er sich selbst gewinnt, um so mehr
hat er die Welt verloren; je weiter er wandert, desto weiter wächst »die
Wüste« um ihn. Sonst verstärken die einsamsten Bücher langsam und still
ihre menschenmagnetische Macht: mit dunkel wirkender Kraft ziehen sie
einen wachsenden Kreis um ihre noch unsichtbare Gegenwart; Nietzsches
Werk aber übt eine repulsive Wirkung, es drängt in gesteigertem Maße alles
Befreundete von ihm ab und schält ihn immer gewaltsamer aus der
Gegenwart heraus. Jedes neue Buch kostet ihn einen Freund, jedes Werk eine
Beziehung. Allmählich ist auch die letzte dünne Vegetation von Interesse an
seinem Tun abgefroren: erst hat er die Philologen verloren, dann Wagner und
seinen geistigen Kreis, zuletzt noch die Jugendgefährten. Kein Verleger findet
sich mehr in Deutschland für seine Bücher, vierundsechzig Zentner schwer
lastet in ungebundenen Stapeln die Produktion seiner zwanzig Jahre im
Keller; er muß sein eigenes, kümmerlich gespartes und geschenktes Geld
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199