Page - 185 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Flucht zur Musik
Heiterkeit, güldene, komm!
Die Musik war von Anfang an in Nietzsche gewesen, nur immer latent,
immer von dem stärkeren Willen nach geistiger Rechtfertigung bewußt
beiseite geschoben. Der Knabe schon begeistert durch kühnes Improvisieren
seine Freunde, und in den Jugendtagebüchern finden sich zahlreiche Hinweise
auf eigene Komposition. Aber je entschlossener sich der Student zur
Philologie und dann zur Philosophie bekennt, um so mehr dämmt er die
unterirdisch nach elementarem Ausbruch drängende Macht seiner Natur ab.
Musik, das bleibt für den jungen Philologen ein willkommenes Otium, ein
Ausruhen von dem Ernst, eine Liebhaberei, wie Theater, Lektüre, Reiten oder
Fechten, eine geistig gymnastische Müßigkeit. Durch diese sorgfältige
Abkanalisierung, durch diese bewußte Absperrung sickert in den ersten
Jahren auch kein Tropfen befruchtend in sein Werk ein: wie er die »Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik« schreibt, bleibt die Musik nur
Gegenstand, Objekt, ein geistiges Thema – aber keine Schwingung
musikalischen Gefühls flutet in die Sprache, in die Dichtung, in die Denkart
modulierend ein. Selbst Nietzsches Jugendlyrik entbehrt aller Musikalität,
und sogar – was noch erstaunlicher anmutet – seine kompositorischen
Versuche scheinen nach Bülows doch kompetentem Urteil amorpher Geist,
typische Antimusik gewesen zu sein. Musik ist und bleibt ihm lange bloß eine
Privatneigung, die der junge Gelehrte mit der ganzen Lust der
Unverantwortlichkeit, mit der reinen Freude des Dilettierens betreibt, aber
immer jenseits und abseits der »Aufgabe«.
Der Einbruch der Musik in Nietzsches innere Welt erfolgt erst, wie die
philologische Kruste, die gelehrte Sachlichkeit um sein Leben gelockert, wie
der ganze Kosmos von vulkanischen Stößen erschüttert und aufgerissen ist.
Da bersten die Kanäle und strömen urplötzlich über. Immer bricht ja die
Musik am stärksten in den aufgewühlten, geschwächten, in den gewaltsam
angespannten, von irgendeiner Passion bis ins Unterste aufgerissenen
Menschen herein – das hat Tolstoi richtig erkannt und Goethe tragisch
gefühlt. Denn selbst er, der gegen die Musik eine vorsichtige, eine abwehrend
ängstliche Haltung einnahm (wie gegen alles Dämonische: in jeder
Verwandlung erkannte er den Versucher), auch er erliegt der Musik immer nur
in aufgelockerten (oder wie er sagt: »in den auseinandergefaltenen«)
Augenblicken, da sein ganzes Wesen aufgewühlt ist, in den Stunden seiner
Schwäche, seines Aufgetanseins. Immer wenn er (zum letztenmal bei Ulrike)
einem Gefühl zur Beute ist und nicht Herr seiner selbst, dann überflutet sie
185
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199