Page - 145 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Tragödie ohne Gestalten
Den größten Genuß vom Dasein
einzuernten heißt: gefährlich leben.
Unzeitgemäße Betrachtungen
Die Tragödie Friedrich Nietzsches ist ein Monodram: sie stellt keine andere
Gestalt auf die kurze Szene seines Lebens als ihn selbst. In allen den
lawinenhaft abstürzenden Akten steht der einsam Ringende allein, niemand
tritt ihm zur Seite, niemand ihm entgegen, keine Frau mildert mit weicher
Gegenwart die gespannte Atmosphäre. Alle Bewegung geht einzig von ihm
aus und stürzt einzig auf ihn zurück: die wenigen Figuren, die anfangs in
seinem Schatten auftreten, begleiten nur mit stummen Gesten des Staunens
und Erschreckens sein heroisches Unterfangen und weichen allmählich wie
vor etwas Gefährlichem zurück. Kein einziger Mensch wagt sich nahe und
voll in den innern Kreis dieses Geschickes, immer spricht, immer kämpft,
immer leidet Nietzsche für sich allein. Er redet zu niemandem, und niemand
antwortet ihm. Und was noch furchtbarer ist: niemand hört ihm zu.
Sie hat keine Menschen, keine Partner, keine Hörer, diese heroische
Tragödie Friedrich Nietzsches: aber sie hat auch keinen eigentlichen
Schauplatz, keine Landschaft, keine Szenerie, kein Kostüm, sie spielt
gleichsam im luftleeren Raum der Idee. Basel, Naumburg, Nizza, Sorrent,
Sils-Maria, Genua, diese Namen sind nicht seine wirklichen Hausungen,
sondern nur leere Meilensteine längs eines mit brennenden Flügeln
durchmessenen Weges, kalte Kulissen, sprachlose Farbe. In Wahrheit ist die
Szenerie der Tragödie immer dieselbe: Alleinsein, Einsamkeit, jene
entsetzliche wortlose, antwortlose Einsamkeit, die sein Denken wie eine
undurchlässige Glasglocke um sich, über sich trägt, eine Einsamkeit ohne
Blumen und Farben und Töne und Tiere und Menschen, eine Einsamkeit
selbst ohne Gott, die steinern ausgestorbene Einsamkeit einer Urwelt vor oder
nach aller Zeit. Aber was ihre Öde, ihre Trostlosigkeit so grauenhaft, so
gräßlich und zugleich so grotesk macht, ist das Unfaßbare, daß dieser
Gletscher, diese Wüste Einsamkeit geistig mitten in einem amerikanisierten
Siebzig-Millionen-Lande steht, mitten in dem neuen Deutschland, das klirrt
und schwirrt von Bahnen und Telegraphen, von Geschrei und Gedränge,
mitten in einer sonst krankhaft neugierigen Kultur, die vierzigtausend Bücher
jährlich in die Welt wirft, an hundert Universitäten täglich nach Problemen
sucht, in hunderten Theatern täglich Tragödie spielt und doch nichts weiß und
nichts ahnt und nichts fühlt von diesem mächtigsten Schauspiel des Geistes in
ihrer eigenen Mitte, in ihrem innersten Kreis.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199