Page - 140 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 140 -
Text of the Page - 140 -
Musik des Untergangs
Nicht jeden Schlag ertragen soll der Mensch,
Und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken.
Die Familie Schroffenstein
Andere Dichter haben großartiger gelebt, weiter ausholend im Werke,
Weltschicksal aus ihrer eigenen Existenz fördernd und verwandelnd:
herrlicher als Kleist ist keiner gestorben. Von allen Toden ist kein Tod so
umrauscht von Musik, so ganz Trunkenheit und Aufschwung wie der seine;
als dionysisches Opferfest endet dies »qualvollste Leben, das je ein Mensch
geführt« (Todesbrief). Dem alles im Leben elend, ja jämmerlich mißlang,
gelingt der dunkle Sinn seines Seins: der heroische Untergang. Manche
(Sokrates, André Chénier) haben in jener letzten Sekunde es bis zu einem
Moderato des Gefühls gebracht, zu einer stoischen, ja lächelnden
Gleichgültigkeit, zu einem weisen, klaglos hingenommenen Sterben – Kleist,
der ewige Übertreiber, steigert auch den Tod empor in eine Leidenschaft,
einen Rausch, eine Orgie und Ekstase. Sein Untergang ist ein Seligsein, ein
Hingegebensein, wie er es nie im Leben gekannt – entbreitete Arme, trunkene
Lippen, Frohmut und Überschwang. Singend wirft er sich hinab in den
Abgrund.
Nur einmal, nur dieses einzige Mal ist Kleisten die Lippe, die Seele gelöst,
zum erstenmal hört man diese dumpfe gepreßte Stimme in Jubel und Gesang.
Niemand hat ihn gesehen außer der Sterbensgefährtin in jenen
Abschiedstagen, aber man fühlt es, sein Auge muß wie das eines Trunkenen,
sein Antlitz erhellt gewesen sein vom Widerstrahl innerer Freude. Was er tut,
was er schreibt in jenen Stunden, übertrifft sein höchstes Maß – die
Todesbriefe sind für mein Empfinden das Vollendetste, das er geschaffen,
letzter Aufschwung wie die Dionysos-Dithyramben Nietzsches, die
Nachtgesänge Hölderlins: in ihnen weht Luft unbekannter Sphären, eine
Freiheit über alle Irdischkeit. Musik, seine tiefste Neigung, die er in der
Jugend heimlich im stillen Gelaß an der Flöte übte, die aber sich der
gepreßten, verkrampften Lippe des Dichters eigenwillig verschloß – nun tut
sie sich ihm auf, zum erstenmal strömt der Verschlossene über in Rhythmus
und Melodie. In diesen Tagen schreibt er sein einziges wirkliches Gedicht,
einen mystisch-trunkenen Liebesüberschwall, die »Todeslitanei« ein Gedicht,
ganz voll Dunkelheit und Abendrot, halb Stammeln, halb Gebet und doch
magisch schön jenseits allen wachen Sinns. Alle Stockigkeit, alle Härte, alle
Schärfe und Geistigkeit, das kalte Licht von Geist, das sonst nüchternd über
seiner heißesten Bemühung hinfällt, ist von der Musik erlöst, das Preußisch-
140
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199