Page - 74 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Das Hölderlinsche Gedicht
Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
Wie du anfingst, wirst du bleiben.
Von der griechischen Vierzahl der Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde
– hat das Hölderlinsche Gedicht nur drei: die Erde fehlt darin, die trübe und
haftende, die bindende und bildende, Sinnbild der Plastik und Härte. Sein
Gedicht ist aus dem Feuer gestaltet, das flackernd nach oben fährt, Sinnbild
des Aufschwungs, der ewigen Himmelfahrt, es ist leicht wie die Luft, ewige
Schwebe, Wolkenwanderung und tönender Wind, und es ist rein wie das
Wasser, diaphan. Alle Farben glüht es durch, immer ist es bewegt, ein
unablässiges Hinauf und Hinab, ewiges Atmen des schöpferischen Geistes.
Sie haben keine Wurzeln nach unten, seine Verse, keine Haft im Erlebnis, sie
heben sich immer feindlich ab von der schweren fruchthaften Erde: etwas
Heimatloses, Ruheloses ist ihnen allen zuteil, etwas von himmelhin
wandernden Wolken, die bald das Frührot der Begeisterung anglüht, bald der
Schatten er Schwermut dunkel macht, und oft fährt aus ihrer düster geballten
Dichte der zündende Blitz und der Donner der Wahrsagung. Aber immer
wandern sie oben, in der höheren, der ätherischen Sphäre, immer abgelöst von
der Erde, unerreichbar der sinnlichen Belastung, fühlbar nur dem Gefühl. »Im
Liede wehet ihr Geist«, sagt Hölderlin einmal von den Dichtern, und in
diesem Wehen und Schweben löst sich Erlebnis in Musik so vollkommen auf
wie Feuer im Rauch. Alles ist aufwärts gerichtet: »Durch Wärme treibt sich
der Geist empor« – durch Verbrennung, Verdunstung, Verklärung des
Stofflichen sublimiert sich das Gefühl. Dichtung ist im Hölderlinschen Sinn
immer also Auflösung der festen, der erdhaften Materie in Geist,
Sublimierung der Welt in den Weltgeist, niemals aber Verdichtung, Ballung
und Verirdischung. Goethes Gedicht, selbst das geistigste, hat immer
noch Substanz, es fühlt sich fruchthaft an, man kann es rund mit allen Sinnen
umfassen (indes jenes Hölderlins entschwebt). Mag es noch so sublimiert
sein, so fehlt ihm nie jener Rest warmer Körperlichkeit, ein Aroma von Zeit,
von Lebensalter, ein salziger Schmack von Erde und Schicksal: immer ist ein
Teil des Individuums Johann Wolfgang Goethes darin, und ein Stück seiner
Welt. Hölderlins Gedicht entindividualisiert bewußt – »das Individuelle
widerstreitet dem Reinen, welcher es begreift«, sagt er dunkel und doch
offenbar. Durch diesen Mangel an Materie hat nun sein Gedicht eine
besondere Statik, es ruht nicht kreishaft in sich selbst, sondern hält sich wie
ein Flugzeug nur durch den Schwung: immer überkommt einen die
Empfindung des Engelhaften – dies Reine, Weiße, Geschlechtlose,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199