Page - 178 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Entdeckung des Südens
Wir haben Süden um jeden Preis,
helle, harmlose, muntere, glückliche
und zärtliche Töne nötig.
»Wir Luftschiffer des Geistes«, sagt Nietzsche einmal stolz, um diese
einzige Freiheit des Denkens zu rühmen, das im unbegrenzten, unbetretbaren
Element sich seine neuen Wege findet. Und wirklich, die Geschichte seiner
geistigen Fahrten, Umwendungen und Erhebungen, diese Jagd ins
Unendliche, spielt durchaus im oberen, im geistig unbegrenzten Raum: wie
ein Fesselballon, der ständig Last und Ballast abwirft, wird Nietzsche durch
seine Entschwerungen, seine Loslösungen immer freier. Mit jedem
abgekappten Tau, mit jeder abgeworfenen Abhängigkeit hebt er sich immer
herrlicher auf zu weiterem Umblick, zu umfassender Schau, zu zeitloser,
persönlicher Perspektive. Es gibt da unzählige Veränderungen der Richtung,
ehe das Lebensschiff in den großen Sturm gerät, der es zerschellt: kaum kann
man sie aufzählen und unterscheiden. Nur ein besonders schicksalswendender
Augenblick der Entscheidungen hebt sich haarscharf und sinnlich im Leben
Nietzsches ab: es ist gleichsam die dramatische Minute, da das letzte Tau
abgelöst wird und das Luftschiff vom Festen ins Freie, vom Schweren ins
unbegrenzte Element sich erhebt. Diese Sekunde in Nietzsches Leben
bedeutet der Tag, da auch er den Standort verläßt, die Heimat, die Professur,
die Profession, um nie mehr anders als im vorüberstreifenden, verächtlichen
Fluge – ewig nun in anderem freieren Element – nach Deutschland
zurückzukehren. Denn alles, was bis zu jener Stunde geschieht, ist für den
wesentlichen, den welthistorischen Nietzsche nicht sonderlich belangvoll: die
ersten Wandlungen bedeuten nichts als Vorbereitungen zu sich selbst. Und
ohne jenen entscheidenden Abstoß in die Freiheit hinein wäre er bei aller
Geistigkeit doch ein Gebundener geblieben, eine professorale fachmännische
Natur, ein Erwin Rhode, ein Dilthey, einer jener Männer, die wir in ihrem
Kreise ehren, ohne sie doch für unsere eigene geistige Welt als eine
Entscheidung zu fühlen. Erst der Durchbruch der dämonischen Natur, die
Entbindung der Denkleidenschaft, das Urfreiheitsgefühl macht Nietzsche zur
prophetischen Erscheinung und verwandelt seinSchicksal in einen Mythus.
Und da ich hier sein Leben nicht als eine Historie, sondern als ein Schauspiel,
durchaus als Kunstwerk und Tragödie des Geistes zu bilden versuche, beginnt
für mich seine Lebenstat erst in dem Augenblick, da der Künstler in ihm
beginnt und sich seiner Freiheit besinnt. Nietzsche im philologischen
Puppenstand ist ein Philologenproblem: erst der Beflügelte, der »Luftschiffer
des Geistes« gehört der Gestaltung.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199