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Dichtung 245
Poetologie
dazu verleiten lässt, einen Spaziergang vor die Tore Ingolstadts zu machen. Dort legt er sich
an einem schattigen Plätzchen hin und schläft ein (57–58). Im Traum erscheinen ihm dar-
aufhin vier Männer, die der Reihe nach je eine Rede an einen ebenfalls anwesenden jungen
Mann richten. Es stellt sich bald heraus, dass es sich dabei um Giangaudenzio, Nicolò,
Cristoforo und Aliprando Madruzzo handelt, die ihren Nachkommen Carlo Gaudenzio
mit einem kurzen Ăśberblick ĂĽber ihr eigenes Leben auf seine neue Aufgabe vorbereiten
wollen (58–73). Unmittelbar nach dem Traum erwacht der Autor. Weil es schon zu däm-
mern beginnt, eilt er nach Hause, wo ihn das, was er gesehen und gehört hat, nicht mehr
los lässt. Beim Versuch, sein Erlebnis in einem Gedicht festzuhalten, übermannt ihn der
Schlaf aber wieder, und er beginnt erneut zu träumen (73–74). Die Situation ähnelt jener
aus dem ersten Traum. Carlo Gaudenzio lauscht dieses Mal jedoch nicht seinen Vorfah-
ren, sondern drei Jungfrauen, die sich als Prudentia (75–79 ; „Klugheit“), Religio (79–81 ;
„Religion“) und Iustitia (81–84 ; „Gerechtigkeit“) ausweisen und dem jungen Rektor eine
Menge erbaulicher Ratschläge mit auf den Weg geben. Dabei betonen sie immer wieder,
die von ihnen propagierten Tugenden seien in der Familie Madruzzo ohnehin verbreitet,
und belegen dies anhand einer ansehnlichen Zahl verstorbener und noch lebender Fa-
milienmitglieder. So ist z.B. die Rede von Carlo Gaudenzios Vater Giovanni Federico,
seinem Onkel Fortunato und seinen BrĂĽdern Emanuele Renato und Ferdinando. Auch
prominente und einflussreiche Persönlichkeiten, die durch Ehebündnisse in ihrer Familie
zu den Verwandten der Madruzzo gezählt werden können (z.B. Marcus Sitticus oder der
später heiliggesprochene Karl Borromäus von Mailand), werden erwähnt. Nach ihrer Rede
entschwinden die Jungfrauen, und der Dichter erwacht aus seinem Schlaf (84–85) – oder
vielleicht doch nicht ? Wir lesen nämlich :
[…] surgo et pulcher mihi Cynthius aurem
Vellit et admonuit : Clarii tu nequa potentis
Iussa time, neu mandatis parere recusa,
Cum tibi sufficiam largas in carmina vires ;
Tu modo carminibus tibi visa audita diemque
Et noctem enumera finemque impone labori.
Ich stehe auf. Da zieht mich der schöne Cynthius [d.h. Apollo] am Ohr und mahnt :
„Fürchte nicht die Befehle des mächtigen Gottes von Klaros [wieder Apollo] und weigere
dich nicht, seinen Anweisungen Folge zu leisten, da ich dir fĂĽr deine Dichtung ausrei-
chend Kraft einflößen werde. Los ! Führe in deinem Gedicht an, was du am Tag und in der
Nacht geträumt hast, und schließe deine Arbeit ab !“
Diese zentrale poetologische Stelle, die sich kurz vor den das Gedicht abschlieĂźen-
den Worten an den Rektor findet, greift auf das Proömium der sechsten Ekloge
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 602
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593