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456 Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669)
Struktur :
Interpretationen
FĂĽrstenspiegel Am Aufbau des StĂĽcks ist nicht nur seine bunte FĂĽlle bemerkenswert, sondern
auch die assoziative Gestaltung der Übergänge zwischen den einzelnen Episoden.
Tatsächlich kann man bei jeder Szene einen gewissen, manchmal sehr äußerlichen,
manchmal aber auch raffinierten Anschluss an die vorhergehende Episode finden.
Reizvoll ist z.B. die Fiktion in der Fiktion, wenn in I,3 die japanischen Christen
plötzlich ein Buch in der Hand halten, in dem die vorausgegangene Szene I,2 er-
zählt wird, und daraus ihre Lehren für die Gegenwart ziehen. Man hat die eigenwil-
lige Struktur des Iocus, fĂĽr den das antike Drama kein Vorbild bietet, ganz verschie-
den interpretiert. Westermayer 1868 sprach von einem „Quodlibet tragikomischer
Scenen“ (274 Anm. 2) und meinte damit offenbar, dass die Beliebigkeit das letzte
Prinzip sei. Valentin 1972a, 415 bezeichnete das Stück als ein „Kompendium der
dramatischen Thematik der damaligen Jesuitenbühne“. In seiner 1978 erschiene-
nen Gesamtdarstellung des deutschen Jesuitendramas äußert derselbe Autor dann
zusätzlich die Vermutung, Balde sei es um die Darstellung des „chaos de l’existence“
gegangen (780). Zuletzt verglich Stroh 2004 das Drama gerade wegen der stark
variierenden Länge seiner Episoden und wegen ihrer überraschenden Übergänge
mit dem Aufbau von Ovids Metamorphosen und glaubte, Balde „beabsichtigte hier
wohl, einmal ein Ovidius der Bühne zu sein“ (263–264). All das hat etwas für sich,
nichts ĂĽberzeugt restlos. Wie von Stroh richtig bemerkt, war die reihende Zusam-
menfügung von Einzelszenen schon vor dem Iocus ein mögliches Aufbauprinzip
jesuitischer TheaterstĂĽcke.18 Eine besondere Aussageabsicht oder antike Vorbilder
mĂĽssen Balde in diesem Punkt nicht zwingend zugeschrieben werden.
Bisher unbeachtet blieb eine mögliche Funktion des Stücks als – wenn auch für
einmal witziger – Fürstenspiegel. In dem vor dem Tiroler Landesherrn Leopold V.
aufgeführten Szenenreigen ist ja auffällig viel von Herrscherpersönlichkeiten und
von Politik die Rede. Einzig die in I,2–I,4 dargestellten zwei Episoden sind offen-
sichtlich unpolitisch. Vielleicht liegt hierin sogar ein Grund fĂĽr die Auslassung der
Japan-Episode I,3–4 in unserer Hs. (I,2 könnte als zu I,1 komplementäre Szene
beibehalten worden sein). In allen übrigen Episoden spielen Edelmann, Graf, Kö-
nig und Kaiser eine Rolle. Im zweiten Akt indoktriniert Machiavellis Namens- und
Geistesvetter „Machiavellus“ den fürstlichen Schüler regelrecht mit seiner Theorie
der egoistischen Machtausübung, deren böse Folgen als abschreckendes Exempel
dienen. Im dritten Akt ergänzen sich der Kaiser des Ostens und jener des Westens.
Im einen Fall dĂĽrfte hier auf den Umgang mit dem Hofstaat abgezielt sein, im
18 Stroh 2004, 262 mit Anm. 62 ; vgl. auch Szarota 1979–1987, Bd. 1,1, 33–35, die bei der Klassifi-
zierung der Jesuitendramen eine regelrechte Untergattung des „Revuestücks“ einführt. Das früheste
genannte Beispiel ist der Münchner Triumphus Divi Michaelis von 1597 ; vgl. später in Tirol z.B. die
weiter unten besprochene Tyrolis pacifica von 1646.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 602
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593