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Dichtung 643
Sprache
Primisser auf
Johannes von
Kempten
Johannes von Kempten, und bedient sich, wie schon der Titel andeutet, der mittel-
alterlichen Sequenzstrophe. Anscheinend hat also die seit der Renaissance in Miss-
kredit geratene und offiziell verpönte akzentuierende Metrik des mittelalterlichen
Hymnus (vgl. Moss 1986) in der Privatandacht eine Art RĂŒckzugsgebiet gefunden.
Verabsolutieren kann man diese Entsprechung jedoch nicht : WĂ€hrend nichts ge-
gen den âprivatenâ (oder zumindest klösterlich-intimen) Charakter von Primissers
akzentuierend-gereimtem Blut-Officium spricht, enthÀlt der metrisch ebenfalls mit-
telalterliche Hymnus de sancto Simone21 (der den Seligen ĂŒbrigens groĂzĂŒgig zum
Heiligen erhebt) einen Hinweis darauf, dass er fĂŒr den Festgottesdienst am angebli-
chen Jahrestag des Martyriums, dem 24. 3., verfasst ist : Str. 5 endet Quem in coena
tam prophana / Libaverunt hodie (âden sie [sc. die Juden] bei einem so gottlosen
Mahl heute geopfert habenâ).
Der sprachliche und literarische Habitus der einzelnen Hymnen entspricht
ungefÀhr ihrem metrischen. Die metrisch mittelalterlichen Texte sind sprachlich
eher unbekĂŒmmert â wobei Primissers humanistische Bildung ein Abgleiten in die
Schlamperei des Simonhymnus verhindert, der metrisch Àhnlich inkonsequent wie
die Dichtung Sartores (s.u.) und mitunter nicht mehr recht verstĂ€ndlich ist â, die
klassischen und ambrosianischen Gedichte stehen auf höherem Niveau. Der Matu-
tin-Hymnus aus dem Trientner Officium etwa beginnt mit einer Strophe, die auch
in ihrer schwungvoll-direkten Hinwendung zu Gott und ihrer Lichtmetaphorik
an Ambrosius erinnert : Dator superni luminis, / Noctis tenebras discute / Nostrisque
redde sensibus / Lucis colendae gaudia. (4â5 ; âGeber des Himmelslichts, zerstreue
das Dunkel der Nacht und gib unseren Sinnen die Freude des verehrungswĂŒrdigen
Lichts zurĂŒckâ.) Der Vesperhymnus (3â4) bereitet mit seiner Weizenkornsymbolik
recht subtil die auf der entsprechenden Bibelstelle Jo 12,24 basierenden Lesungen
VII bis IX vor und ist dabei durchaus von einer gewissen sprachlichen Kraft, wie
etwa folgendes Gleichnis zum Martyrium der drei Heiligen zeigt : Ut grando segetes
verberat aureas, / Hos turba agricolum contudit impia. (âWie Hagel die goldenen Saa-
ten zerdrischt, so schlug diese die gottlose Schar der Bauern zusammen.â)
Literarisch und konzeptionell am interessantesten ist aber Primissers Rythmus
auf Johannes von Kempten (vgl. Abb. 103). Der lat. Text liest sich flĂŒssig und
ist eingÀngig aufgebaut : Anrufend-preisende Anfangs- und Schlussteile (Str. 1,
9â11) rahmen die Vita (Str. 2â8), die ihrerseits mit ihrer Gliederung in Lebensweg
(Str. 2â5), CharakterportrĂ€t (Str. 6â7) und Tod (Str. 8) an eine suetonische Bio-
graphie en miniature erinnert. Er wird ergÀnzt durch eine Reihe von Paratexten,
die ihn verschiedenen Leserschichten besser zugÀnglich machen : Die praefatio (Bl.
21 Er orientiert sich metrisch, in der ersten Strophe auch sprachlich, an Thomas von Aquins eucharis-
tischer Sequenz Pange lingua.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 2
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Ć ubariÄ
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 728
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Von der GrĂŒndung der UniversitĂ€t bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Ć ubariÄ) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Ć ubariÄ/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Ć ubariÄ) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- AbkĂŒrzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322