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IV. Satiren. 211
Zustand andern begreiflich mache», auf andere
übertragen will. Auch die Tiere haben Gefühl,
aber nur der Menfch hat Empfindung, weil nur
er Verstand hat, Nie Empfindung steht der Er«
tcniitnistillft ebenso nah als der Oefühlsgabc,
Verzeih, daß ich dir das vordemonstriere, der
du es besser »erstehst als ich; ich bin aber cin-
Lessina.
Man lernt immer, wenn man mit vernünf-
tigen Leuten fpricht. Und überdies: der Philo-
foph von Tanssouci —
Friedrich.
Lassen wir das! Also eure schöue Literatur
taugt nichts,
Lessing.
Und doch wird sie gegenwärtig von ganz
Europa bewundert.
Friedrich.
Weil die andern eben gar nichts haben. Iu-
daher die Bedürfnisse von heute, Nie Glanz-
cpochcu der übrigen Nationen fallen in eine so
frühe Zeit, daß ihre hcrllorbringungen auf viele
Zustände der Gegenwart leine Anwendung
Kernschuß trifft. Auch verhalten sich die andern
Nationen zur deutschen Literatur, wie mau sonst
vou der Weisheit der Ägypter sprach. Man lobt,
was man nicht kennt, lim wieder auf Goethe
zu kommen: seine frühern Werke find zu natür-
lich und seine spätern zu künstlich. Am besten
noch gefällt mir sein Wilhelm Meister, Es ist der
deutsche Ton Quixote und steht an Wert dem
spanischen nichts nach,
Lcsjina.
Aber der Schluß!
Friedrich.
Er wollte eben aufhören. — Schiller ist gut.
Er ist der deutsche Racine,
Lessing.
Das wäre mir uicht eingefallen.
Friedrich.
Lies seine Übersetzung der Phädra, und du
Wirst glauben, Racine habe sich selbst übersetzt,
Sie decke» sich. Wenn Schiller weiter ist, so ist
es die im Wissen vorgeschrittene Zeit, ^orscl^.'
Schillern in die Zeit Ludwigs XIV, uud mache
Naciuc zum deutsche» Professor im 19, Iahr-
Imndert, und jeder Unterschied hat aufgehört,
Shakespeare hat einen üblen Einfluß auf deinen
Laudsmann ausgeübt, indem er seine Form er-
weiterte. Wäre der Wallenstein iu fünf Alte zu-
sammengedrängt, ich wußte ihm nichts au die
Seite zu setzen. Leising.
Und doch, ohne Shakespeare als Vorgänger,
was wäre Schiller?
Friedlich.
Na magst d» recht haben, Voltaire Hai
Shakespeare einen Wilden genannt. Er hätte
nämlich wild und taugt nichts, oder vielmehr
nnr für eine halb rohe Zeit, die ncne und staitc-
Eindrücke wollte, ohne fich um ihre herbei«
Lessing.
Und doch geht er immer den Weg der Natur.
Friedrich.
Auf den StatiouZplätzen trifft er allerdings
fast immer mit ihr zusammen, aber auf dem
Natur selbst. In der Kunst aber siud ihre
Stufen ebenso wichtig als ihre Höhe,
Leising.
Tu forderst die Natur bei Shakespeare uu>)
weisest sie bei Goethe zurück.
Friedrich.
Shakespeare hat eben die Natur genommen,
wie der Nichter soll: in ihren großen Verhält-
nissen, Goethe stellt fie zwar mit Treue dar,
bringt sie aber vorher auf seine eigeues Matz
herab, hat er nicht aus Egniont einen Lebe»
alter, in der die Handlung spielt? üdcr glaubst
du, daß solche Gesinnungen und Eharaktcre
möglich find, wenn nicht lange vor Anfang der
Handlung der Herr Onkel seine eigenen Kinder
gegessen uud der Vater seine Tochter deu Göttern
daß dieser König Thaos nicht danach aussieht,
daß ein neues Menschenopfer irgend von ihm
zu befürchte» stünde, Goethe hat nur den
'^niN linann in Handlung gesetzt und anf lebende
Menfchen angewendet, was von toten Statuen
allerdings feine Geltung haben mag.
Lessing.
Ich war Goethes Freund nicht, solang' ich
lcbte, er war aber auch damals uicht, was er
später geworden ist. Er ist denn doch der Glanz»
puukt unserer Nation,
Friedrich.
Nas ist ja, was ich sage. Ich tadle nicht
ih», sondern euch, Naß ihr nichts Großartiges
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Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Band II
- Titel
- Grillparzers sämtliche Werke
- Untertitel
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Band
- II
- Herausgeber
- Rudolf von Gottschall
- Verlag
- Hansa-Verlag
- Ort
- Hamburg
- Datum
- 1906
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.2 x 15.9 cm
- Seiten
- 552
- Schlagwörter
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik