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I. Zur deutschen Literatur. 231
?>e 'üegcuteu >ue,>eu nicht, daß, indem sie
den Üieligionsentliusiasinu^ unterstützen, sie das
mung nähren, die ihnen so gefährlich scheint.
Nie Schriftsteller fehlen gewöhnlich nach zwei
Seiten: die einen sind so verliebt in ilire eigeueu
Gedinikeu, daß sie auf das Publikum gar teine
Nmls,,1,l urlnneu. Eiu großer Fehler^ denn
nian denkt snr sich, schreibt aber nnd läßt drucken
oder aufführen sür andere, Die zweite Klasse
will nnr dem Pnblituui liefalleu, Na läßt sich
denn schwer voraussehen, was dein Pnblitnm
jederzeit nnd überall gefallen wird, nebstdem,
daß dieses Verfahren geradezu zur Gemeinheit
fuhrt, Nas Wahre ist, die Moralregel des
Christentums- was du nicht willst, daß dir ein
anderer tue, das tue ihm auch nicht, gerade»
auf die Poesie auznwendcn »ud sich ben»
Schreiben zu fragen: würde dir das gefallen,
wenn es ein anderer schriebe?
In eiuein stimmt die Welt jetzt ziemlich
überein, und sie müßte blinder fein, als die
Blindheit selbst, wenn sie nicht einsähe: daß es
unserer Zeit an Talenten nnd Charakteren fehlt.
Selbst der früher so oft wiedeilwüe und eigeut
lich ai>5 der Sache selbst slicßende i»atz: das; die
hat nnscr Nrmutszengnis besiegelt nnd unter«
schrieben. In ganz Europa war die Revolution
lich! Ävu nichts ist, kann auch nichts erscheinen.
Woher kommt alfo diese Dürftigkeit? Mau kann
es einen Zufall nennen, aber ein Zufall, der
Dinge verspottend, Ein Teil wird wohl immer
die Eutgeistigung der Massen als Grnnd der
Ansteclnng ist denn doch kein Znfall; nm fo
mehr, wenn sich Ursachen nachweisen lassen, die
Gewinn- und Genußsucht, im Egoismus, in der
kcit nachsuchen, mich interessiert die Literatur
und da sich unsere Zeit vor allein eine gebildete
nennt, so dürste die Literatur als dao <7igau
und wohl gar einen großen Teil der Schuld
tragen »sw.
Zur Geschichte der deutschen Dichtung
von Gervinus.
Vor allem fcheint dem Verfasser nicht klar
geworden zu sein, ob er, wie der Titel besagt,
eine Geschichte der poetischen Literatur Dentfch-
lands oder eine deutsche Kulturgeschichte vom Standpunkte der Poesie schreiben wollte. Ein
Unlerschied, der, wenn er auch über die Fassungs-
kraft de!> Herrn Veriafferc- geben sollte, doch
nichtsdestoweniger böchst bedeutend ist, ilb hornz
und Ovid durch ihre Nerte den sittlichen und
gesellschaftlichen Zustand damals selir gefördirt
haben, ist eine große oder vieluieln keine ?,rage,
daß sie aber deniuugeachlet vortreffliche Dichter
ilbe seines Namens, gerne zugeben.
Im übrigeu bringt Herr Gervinuo zur Lösung
literarischcn Deutschland ein selleuer zn werden
ansängt. Infolge dieses gesnnden Menschen-
verstandes hält er z, ,B, bei Beurteilung der
auel> veiqleichuugsN'eise der ^abrheit am näch-
sten. Andererseits borgt er bei deu Eiscl,ei.
nuugeu der späteren Literatur, wo eö init einen!
silieuoerstand geleitet, meistens vor die rechte
Schmiede, Lessing und Gorlhe, Schiller nnd
Herder müssen ihr Kontingent znr "Abschätzung
uommcue llrtcil, z, V, über Jean Paul, in der
weiteren, Herrn Gcrvinus angehörigen Äus°
führnng leicht ins Verkehrte hinübergespielt
was aber siir die Sache gleichgültig ist.
Dieses führt mich, nachdem ich die gute Eigen«
schaft des Herrn Gervinus: gesunden Menschen»
verstand im allgemeinen, geltend gemacht habe,
auch auf seine schlimme: er versteht nämlich
von seinem Gegenstande nicht das geringste. Das
ist nicht gleichgültig. Ein Geschichtschreiber der
allgemeinen menschlichen Dinge versteht von
Verstand hat. Bei Spezialitäten ist das aber
der Chemie mehr Chemiker sein muß, als histo«
riter, und einer, der die Geschichte der '.'lstro-
nicht ein Dichter sein, doch wenigstens poetischen
Herrn von Gervinus leider nicht zu teil, Er»
findung und Komposition, Lebcndigmachung und
Ausführung, üben auf sein ästhetisches Urteil
nicht den geringsten Einfluß aus, Wenn er
sich bei Goethe mit der Form viel zu schaffen
macht, su geschieht es nur darum, weil Goethe
in seinen Konfessionen den Auspruch selbst fo
häufig urgiert; eine gleiche Rücksicht aber den
andern Dichtern angcdcihen zu laffen, >?llt Herr»
Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Band II
- Titel
- Grillparzers sämtliche Werke
- Untertitel
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Band
- II
- Herausgeber
- Rudolf von Gottschall
- Verlag
- Hansa-Verlag
- Ort
- Hamburg
- Datum
- 1906
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.2 x 15.9 cm
- Seiten
- 552
- Schlagwörter
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik