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L, Zur Ästhetik und Poetik. 339
der einmal eine Sache seinem Geiste eingeprägt
hat, »immt sehr schwer etwas Widersprechendes
aus, und wenn es ihm ja die Vernunft anrät,
wird ihn das Ältc noch oft genug in de» Nacken
schlage».
Sich des Geistes der Zeit bemächtigen, ist
die Sache des großen Talentes; sich vom Geiste
der Zeit fortziehen lassen, bezeichnet dns gewöhn-
liche, Vcid^ unterscheidet sich wie Handeln
Ihr Elenden, die ihr Geist habt, aber nur
«icht, um eure Werte dnmit zu bcgcistigen! Was
lümmert mich der Mansch in euch! Das geht
eure Angehörigen, eure Granen und Kinder au.
Schlendrian und Pcdautisinus in der Kunst
billigen, diese verwerfen sie; der ofscne Kunst-
sinn aber kennt leine Gattungen, sondern nur
Individuen,
Das Urteil ausübender Künstler über Kunst-
werke ist nicht immer das verläßlichste, Nenn
cr selbst hat, auch in der fremden Gabe; der
Einsichtige hingegen das, was er nicht hat und
wonach er strebt.
Der Künstler, an dem man die Originalität
als charakteristische Eigenschaft hervorhebt, ge-
hört schon deshalb in den zweiten Rang, denn
die Geister eisten NangeZ charakterisiert der
Einn für dns Natürliche, Sie machen es wie
alle andern, nur unendliche Wale besser.
Mau schreit jetzt in allen Künsten so sehr
gegen die Regeln und daß das Genie sich durch
wohl auch wahr. Aber durch gänzliches Auf-
heben der Negel auch jene Köpfe davon zu be-
wcndig zum Unsinn führen; und das tut es auch.
Tie Poesie ist wie der Lichtucbel im Schwert
5?nrt den Mittelpunkt des Sonnensystems ahnen,
Was die Lebendigkeit der ^atur erreicht, und
doch durch die begleitenden Ideen sich über die
Natur hinaus erhebt, das und auch »ur das
ist Poesie,
Poesie ist die Verkörperung des Geistes, die
Vergeistigung des Körpers, die Empfindung des
Verstandes und das Deuten des Gefühls. Nichts ist abgeschmackter, als von schönen
Wissenschaften zu spreche». Die Poesie ist eine
bildende Kunst, wie die Malerei
Die Wissenschaft und Kunst (Poesie) unter-
scheiden sich darin, daß die Wissenschaft die Er-
scheiiiungcn auf das Weseu oder den Gruud ,;»
als solche bestehe» uud rechtfertigt sie uur da-
guiig, dnrch ihr Vorkomme» in allen Menschen
sich als eine der Grundlage» der menschliche»
puUmilH szr. llüioero Iu8ou>. I. 13,)
Nissenschaft und Kunst, oder wenn man will:
Poesie und Prosa, unterscheiden sich voneinander,
wie eine Reise und eine Spazierfahrt. Der
Zweck der Ncise liegt im Ziel, der Zweck der
Spazierfahrt im Weg,
Der Geist der Poefie ist zusammengesetzt aus
dem Tiefsnin des Philosophen und der Freude
des Kindes a» bnntcn Bildern.
Die Enuuziationen und EinKrücke des Lebens
Alles, was den Mensche» im Gefühl einer Nea-
ütat über fich felbst, d, h, über seinen gewöhn-
lichen Zustand erhebt, hat ihn begeistert, >,ud
diese Begeisterung ist die Poesie, Jede Realität
nimmt hieran teil. Nie Vorstellung oder Tar-
stellniig einer Idee erweckt das Gefühl des Ähu»
lichcn im Menschen, bringt ihn für länger oder
kürzer seinem Ursprnnge, dem Urlulde der
Menschheit naher, macht ihn sich Wesen haft fühlen,
und der Gcnnß dieser Wcfcnhaftigkcit ist die
Poesie, Die moralische Kraft gehört auch in de»
Kreis der Poesie, aber nicht mehr, als jede
andere Kraft, und nur insofern sie Kraft, Nenli»
tät ist; al§ Negation, als Tchraiite liegt sie aufter
der Poefie; und gerade um die Lebensgeister
Meisterin etwas zu erfrischen, dem inneren Men-
schen neue Spannkraft zu gcbeu, flüchtet man
von Zeit zu Zeit aus der Werkstube des Geistes
iu seinen Blumengarten,
Die Poesie ist die Aufhcbnng der Veschrä»»
kiliigcn des Lebens,
Die Poesie stellt die Naturvcrhältuisse wieder
her, welche die konventionellen Verhältnisse ge<
stört, und sie ist daher notwendig um so un-
moralischcr, je verwickelter diese Verhältnisse im
o!a»>ie der Zivilisation werden. Das Verhält-
nis Achills zur Briseis, das unschuldigste zur
Zeit Homers, würde revoltant im Munde eines
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Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Band II
- Titel
- Grillparzers sämtliche Werke
- Untertitel
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Band
- II
- Herausgeber
- Rudolf von Gottschall
- Verlag
- Hansa-Verlag
- Ort
- Hamburg
- Datum
- 1906
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.2 x 15.9 cm
- Seiten
- 552
- Schlagwörter
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik