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einzutauchen. Er schlängelte sich hurtig durch die Korsobesucher. Zwei
Minuten dauerte der ziemlich lange Korso, ekelhafte zwei Minuten. Er nahm
zwei Stufen auf einmal. Niemandem begegnen! Begegnungen auf der Treppe
mußte man meiden: schlimme Vorzeichen. Wärme, Licht und Stimmen
kamen ihm im Flur entgegen. Er trat ein, er tauschte Grüße aus. Er suchte den
Obersten Kovacs im gewohnten Winkel. Dort spielte er jeden Abend Domino,
jeden Abend mit einem andern Herrn. Er spielte Domino mit Begeisterung;
vielleicht aus einer unmäßigen Angst vor Karten. »Ich habe noch nie eine
Karte in der Hand gehabt«, pflegte er zu sagen. Nicht ohne Gehässigkeit
sprach er das Wort »Karten« aus; und er zeigte dabei mit dem Blick in die
Richtung seiner Hände, als hielte er in ihnen seinen tadellosen Charakter. »Ich
empfehle euch«, fuhr er manchmal fort, »das Dominospiel, meine Herren! Es
ist sauber und erzieht zur Mäßigkeit.« Und er hob gelegentlich einen der
schwarzweißen, vieläugigen Steine in die Höhe, wie ein magisches
Instrument, mit dem man lasterhafte Kartenspieler von ihrem Teufel befreien
kann.
Heute war der Rittmeister Taittinger an der Reihe, den Dominodienst zu
versehen. Das Angesicht des Obersten warf einen bläulichroten Widerschein
auf das gelbliche, hagere des Rittmeisters. Carl Joseph blieb mit sanftem
Klirren vor dem Obersten stehn. »Servus!« sagte der Oberst, ohne von den
Dominosteinen aufzusehn. Er war ein gemütlicher Mann, der Oberst Kovacs.
Seit Jahren hatte er sich eine väterliche Haltung angewöhnt. Und nur einmal
im Monat geriet er in einen künstlichen Zorn, vor dem er selbst mehr Angst
hatte als das Regiment. Jeder Anlaß war ihm da willkommen. Er schrie, daß
die Wände der Kaserne und die alten Bäume rings um die Wasserwiese
bebten. Sein blaurotes Angesicht wurde blaß bis in die Lippen, und seine
Reitpeitsche schlug in zitternder Unermüdlichkeit gegen den Stiefelschaft. Er
schrie lauter wirres Zeug, zwischen dem lediglich die rastlos
wiederkehrenden, zusammenhanglos vorgebrachten Worte »in meinem
Regiment« leiser klangen als alles andere. Er machte endlich halt,
ohne Grund, genauso, wie er angefangen hatte, und verließ die Kanzlei, das
Kasino, den Exerzierplatz oder was er sonst immer zum Schauplatz seines
Gewitters gewählt hatte. Ja, man kannte ihn, den Obersten Kovacs, das gute
Tier! Man konnte sich auf die Regelmäßigkeit seiner Zornausbrüche verlassen
wie auf die Wiederkehr der Mondphasen. Rittmeister Taittinger, der sich
schon zweimal hatte transferieren lassen und der eine genaue Kenntnis von
Vorgesetzten besaß, bezeugte jedermann unermüdlich, daß es in der ganzen
Armee keinen harmloseren Regimentskommandanten gebe.
Oberst Kovacs sah schließlich von der Dominopartie auf und gab Trotta die
Hand. »Schon gegessen?« fragte er. »Schade«, sagte er weiter und sein Blick
verlor sich in einer rätselhaften Ferne: »Das Schnitzel war heute
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik