Seite - 103 - in Radetzkymarsch
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hauchdünnen, winzigen, schwarzen Buchstaben, aus denen sich der Name
Sipolje zusammensetzte. In der Nähe waren: ein Ziehbrunnen, eine
Wassermühle, der kleine Bahnhof einer eingleisigen Waldbahn, eine Kirche
und eine Moschee, ein junger Laubwald, schmale Waldpfade, Feldwege und
einsame Häuschen. Es ist Abend in Sipolje. Vor dem Brunnen stehen die
Frauen in bunten Kopftüchern, golden überschminkt vom glühenden
Sonnenuntergang. Die Moslems liegen auf den alten Teppichen der Moschee
im Gebet. Die winzige Lokomotive der Waldbahn klingelt durch das dichte
Dunkelgrün der Tannen. Die Wassermühle klappert, der Bach murmelt. Es
war das vertraute Spiel aus der Kadettenzeit. Die gewohnten Bilder kamen
auf den ersten Wink. Über allen glänzte der rätselhafte Blick des Großvaters.
Es gab in der Nähe wahrscheinlich keine Kavalleriegarnison. Man mußte sich
also zur Infanterie transferieren lassen. Nicht ohne Mitleid sahen die
berittenen Kameraden auf die Truppen zu Fuß, nicht ohne Mitleid werden sie
auf den transferierten Trotta sehn. Der Großvater war auch nur ein einfacher
Hauptmann bei der Infanterie gewesen. Zu Fuß marschieren über den
heimatlichen Boden war fast eine Heimkehr zu den bäuerlichen Vorfahren.
Mit schweren Füßen gingen sie über die harten Schollen, den Pflug stießen sie
in das saftige Fleisch des Ackers, den fruchtbaren Samen verstreuten sie mit
segnenden Gebärden. Nein! Es tat dem Leutnant durchaus nicht leid, dieses
Regiment und vielleicht die Kavallerie zu verlassen! Der Vater mußte es
erlauben. Ein Infanteriekurs, vielleicht ein bißchen lästig, war noch zu
absolvieren.
Man mußte Abschied nehmen. Kleiner Abend im Kasino. Eine Runde
Schnaps. Kurze Ansprache des Obersten. Eine Flasche Wein. Den Kameraden
herzlichen Händedruck. Hinter dem Rücken zischelten sie schon. Eine
Flasche Sekt. Vielleicht, wer weiß, erfolgt am Ende noch gesammelter
Abmarsch ins Lokal der Frau Resi: noch eine Runde Schnaps. Ach, wenn
dieser Abschied schon überstanden wäre! Den Burschen Onufrij wird man
mitnehmen. Man kann sich nicht wieder mühsam an einen neuen Namen
gewöhnen! Dem Besuch beim Vater wird man entgehn. Überhaupt wird man
versuchen, allen lästigen und schwierigen Ereignissen zu entgehen, die mit
einer Transferierung verbunden sind. Blieb allerdings noch der schwere,
schwere Weg zur Witwe Doktor Demants.
Welch ein Weg! Der Leutnant Trotta versuchte, sich einzureden, daß Frau
Eva Demant nach dem Begräbnis ihres Mannes wieder zu ihrem Vater nach
Wien abgereist wäre. Er wird also vor der Villa stehn, lange und vergeblich
läuten, die Adresse in Wien erfahren und einen knappen, möglichst herzlichen
Brief schreiben. Es ist sehr angenehm, daß man nur einen Brief zu schreiben
hat. Man ist keineswegs mutig, denkt der Leutnant zu gleicher Zeit. Fühlte
man nicht ständig im Nacken den dunklen, rätselhaften Blick des Großvaters,
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik