Seite - 143 - in Radetzkymarsch
Bild der Seite - 143 -
Text der Seite - 143 -
Der Bezirkshauptmann rückte wieder näher an den Tisch und fragte: »Und
warum – Pardon! – wäre es genauso überflüssig, dem Vaterland zu dienen,
wie Gold zu machen?«
»Weil das Vaterland nicht mehr da ist.«
»Ich verstehe nicht!« sagte Herr von Trotta.
»Ich hab’ mir’s gedacht, daß Sie mich nicht verstehen!« sagte Chojnicki.
»Wir alle leben nicht mehr!«
Es war sehr still. Der letzte Dämmer des Tages war längst erloschen. Man
hätte durch die schmalen Sparren der grünen Jalousien schon ein paar Sterne
am Himmel sehen können. Den breiten und schmetternden Gesang der
Frösche hatte der leise, metallische der nächtlichen Feldgrillen abgelöst. Von
Zeit zu Zeit hörte man den harten Ruf des Kuckucks. Der Bezirkshauptmann,
vom Alkohol, von der sonderlichen Umgebung und von den ungewöhnlichen
Reden des Grafen in einen nie gekannten, beinahe verzauberten Zustand
versetzt, blickte verstohlen auf seinen Sohn, lediglich, um einen vertrauten
und nahen Menschen zu sehn. Aber auch Carl Joseph schien ihm gar nicht
mehr vertraut und nahe! Vielleicht hatte Chojnicki richtig gesprochen, und sie
waren in der Tat alle nicht mehr da: das Vaterland nicht und nicht der
Bezirkshauptmann und nicht der Sohn! Mit großer Anstrengung brachte Herr
von Trotta noch die Frage zustande: »Ich verstehe nicht! Wie sollte die
Monarchie nicht mehr dasein?«
»Natürlich!« erwiderte Chojnicki, »wörtlich genommen, besteht sie noch.
Wir haben noch eine Armee« – der Graf wies auf den Leutnant – »und
Beamte« – der Graf zeigte auf den Bezirkshauptmann. »Aber sie zerfällt bei
lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! Ein Greis, dem Tode
geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach durch
das Wunder, daß er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange
noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige
Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion
ist der Nationalismus. Die Völker gehn nicht mehr in die Kirchen. Sie gehn in
nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der
Frömmigkeit: auf dem Glauben, daß Gott die Habsburger erwählt hat, über
soundso viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher
Bruder des Papstes, es ist Seine K. u. K. Apostolische Majestät, keine andere
wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der
Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der
deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verläßt, immer noch; eventuell von der
Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott
verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen!«
143
zurück zum
Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik