Seite - 180 - in Radetzkymarsch
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Aber um auch ihr wirkliches Alter zu vernichten, auszurotten, in dem Meer
ihrer Leidenschaft zu versenken, griff sie nach den Schultern des Leutnants,
deren zarte und warme Knochen schon ihre Hände zu verwirren begannen,
und zog ihn zum Sofa. Sie überfiel ihn mit ihrer gewaltsamen Sehnsucht, jung
zu werden. In heftigen Flammenbögen brach die Leidenschaft aus ihr, fesselte
den Leutnant und unterjochte ihn. Ihre Augen blinzelten dankbar und selig
das junge Angesicht des Mannes über dem ihrigen an. Sein Anblick allein
verjüngte sie. Und ihre Wollust, eine ewig junge Frau zu bleiben, war so groß
wie ihre Wollust zu lieben. Eine Weile glaubte sie, niemals von diesem
Leutnant lassen zu können. Einen Augenblick später sagte sie allerdings:
»Schade, daß du heute fährst! … «
»Werd’ ich dich nie mehr sehen?« fragte er fromm, ein junger Liebhaber.
»Wart auf mich, ich komm’ wieder!« Und: »Betrüg mich nicht!« fügte sie
schnell hinzu, mit der Furcht der alternden Frau vor der Untreue und vor der
Jugend der anderen.
»Ich liebe nur dich!« antwortete aus ihm die ehrliche Stimme eines jungen
Mannes, dem nichts so wichtig erscheint wie die Treue.
Das war ihr Abschied.
Leutnant Trotta fuhr zur Bahn, kam zu früh und mußte lange warten. Ihm
war es aber, als führe er schon. Jede Minute, die er noch in der Stadt
zugebracht hätte, wäre peinvoll, vielleicht sogar schmachvoll gewesen. Er
milderte den Zwang, der ihn befehligte, indem er sich den Anschein gab, ein
wenig früher wegzufahren, als er mußte. Er konnte endlich einsteigen. Er
verfiel in einen glücklichen, selten unterbrochenen Schlaf und erwachte erst
kurz vor der Grenze.
Sein Bursche Onufrij erwartete ihn und berichtete, daß Aufruhr in der Stadt
herrsche. Die Borstenarbeiter demonstrierten, und die Garnison hatte
Bereitschaft.
Leutnant Trotta begriff jetzt, warum Chojnicki die Gegend so früh
verlassen hatte. Da fuhr er also »nach dem Süden« mit Frau von Taußig! Und
man war ein schwacher Gefangener und konnte nicht sofort umkehren, den
Zug besteigen und zurückfahren!
Vor dem Bahnhof warteten heute keine Wagen. Leutnant Trotta ging also
zu Fuß. Hinter ihm ging Onufrij, den Ranzen in der Hand. Die kleinen
Kramläden des Städtchens waren geschlossen. Eiserne Balken verrammelten
die hölzernen Türen und Fensterläden der niedrigen Häuser. Gendarmen
patrouillierten mit aufgepflanzten Bajonetten. Man hörte keinen Laut, außer
dem gewohnten Quaken der Frösche aus den Sümpfen. Den Staub, den diese
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik