Seite - 207 - in Radetzkymarsch
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Feind zückt. »Alle Welt weiß es«, sagte der Junge, »und sagt es auch!« »Sagt
es?« wiederholte Herr von Trotta. »Ihre Kameraden sagen’s?« »Ja, sie sagen
es!«
Der Bezirkshauptmann sprach nicht mehr. Es schien ihm plötzlich, daß er
auf einem hohen Berg stand und ihm gegenüber der Leutnant Nechwal in
einem tiefen Tal. Sehr klein war der Leutnant Nechwal! Aber obwohl er klein
war und sehr tief stand, hatte er dennoch recht. Und die Welt war nicht mehr
die alte Welt. Sie ging unter. Und es war in der Ordnung, daß eine Stunde vor
ihrem Untergang die Täler recht behielten gegen die Berge, die Jungen gegen
die Alten, die Dummköpfe gegen die Vernünftigen. Der Bezirkshauptmann
schwieg. Es war ein sommerlicher Sonntagnachmittag. Die gelben Jalousien
im Herrenzimmer ließen gefilterte goldene Sonne einströmen. Die Uhr tickte.
Die Fliegen summten. Der Bezirkshauptmann erinnerte sich an den
Sommertag, an dem sein Sohn Carl Joseph in der Uniform eines
Kavallerieleutnants gekommen war. Wieviel Zeit war seit jenem Tage
vergangen? Ein paar Jahre! In diesen Jahren aber schienen dem
Bezirkshauptmann die Ereignisse dichter geworden zu sein. Es war, als wenn
die Sonne täglich zweimal auf- und zweimal untergegangen wäre; und jede
Woche hätte zwei Sonntage gehabt und jeder Monat sechzig Tage! Und die
Jahre waren doppelte Jahre gewesen. Und Herr von Trotta fühlte sich
gleichsam von der Zeit betrogen, obwohl sie ihm das Doppelte geboten hatte;
und es war ihm, als hätte ihm die Ewigkeit doppelte falsche Jahre geboten
statt einfacher echter. Und während er den Leutnant verachtete, der ihm
gegenüber so tief in seinem Jammertal stand, mißtraute er dem Berg, auf dem
er selber stand. Ach! Es geschah ihm Unrecht! Unrecht! Unrecht! Zum
erstenmal in seinem Leben glaubte der Bezirkshauptmann, daß ihm Unrecht
geschah.
Er sehnte sich nach Doktor Skowronnek, dem Mann, mit dem er seit
einigen Monaten jeden Nachmittag Schach spielte. Denn auch das
regelmäßige Schachspiel gehörte zu den Veränderungen, die im Leben des
Bezirkshauptmanns vorgegangen waren. Er hatte Doktor Skowronnek schon
lange gekannt, wie er andere Kaffeehausbesucher kannte, nicht mehr und
nicht weniger. Eines Nachmittags saßen sie einander gegenüber. Jeder halb
verdeckt von einer aufgespannten und entfalteten Zeitung. Wie auf ein
Kommando legten beide die Zeitungen nieder, und ihre Augen begegneten
einander. Gleichzeitig und auf einen Schlag erkannten sie, daß sie denselben
Bericht gelesen hatten. Es war ein Bericht über ein Sommerfest in Hietzing,
an dem ein Fleischermeister namens Alois Schinagl dank seiner
übernatürlichen Gefräßigkeit Sieger im Beinfleischessen geblieben war und
die »Goldene Medaille des Wettesservereins von Hietzing« erhalten hatte.
Und die Blicke der beiden Männer sagten zu gleicher Zeit: Wir essen auch
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik