Seite - 220 - in Radetzkymarsch
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seinen trostlosen Bemühungen, Ordnung zu halten, zeugen können.
Unendliche Zahlenkolonnen standen auf jeder Seite. Sie verwirrten und
vermischten sich aber, er verlor sie gleichsam aus den Händen, sie addierten
sich selbst und trogen ihn mit falschen Summen, sie galoppierten vor seinen
sehenden Augen davon, sie kehrten im nächsten Augenblick verwandelt
zurück und waren nicht mehr zu erkennen. Es gelang ihm nicht einmal, seine
Schulden zu addieren. Auch die Zinsen begriff er nicht. Was er geliehen hatte,
verschwand hinter dem, was er schuldig war, wie ein Hügel hinter einem
Berg. Und er begriff nicht, wie Kapturak eigentlich rechnete. Und mißtraute
er auch Kapturaks Ehrlichkeit, so traute er doch noch weniger seiner eigenen
Fähigkeit zu rechnen. Schließlich langweilte ihn jede Zahl. Und er gab ein für
allemal jeden Rechenversuch auf, mit dem Mut, den Ohnmacht und
Verzweiflung erzeugen.
Sechstausend Kronen war er Kapturak und Brodnitzer schuldig. Diese
Summe war selbst für seine mangelhafte Vorstellung von Zahlen riesengroß,
wenn er sie mit seiner monatlichen Gage verglich. (Und von der wurde noch
ein Drittel regelmäßig abgezogen.) Dennoch hatte er sich mit der Zahl 6000
allmählich vertraut gemacht wie mit einem übermächtigen, aber ganz alten
Feind. Ja, in guten Stunden konnte es ihm sogar scheinen, daß die Zahl
abnehme und Kräfte verliere. In schlechten Stunden aber schien es ihm, daß
sie zunehme und Kräfte gewinne.
Er fuhr zu Frau von Taußig. Seit Wochen unternahm er diese kurzen und
verstohlenen Fahrten zu Frau von Taußig, sündige Wallfahrten. Den naiven
Frommen ähnlich, für die eine Pilgerfahrt eine Art Genuß ist, eine
Zerstreuung und manchmal sogar eine Sensation, verband Leutnant Trotta das
Ziel, zu dem er pilgerte, mit der Umgebung, in der es lebte, mit seiner ewigen
Sehnsucht nach einem freien Leben, wie er es sich vorstellte, mit dem Zivil,
das er anlegte, und mit dem Reiz des Verbotenen. Er liebte seine Reisen. Er
liebte diese zehn Minuten Fahrt im geschlossenen Wagen zum Bahnhof,
während welcher er sich einbildete, daß er von niemandem erkannt wurde. Er
liebte die paar geliehenen Hundertkronenscheine in der Brusttasche, die heute
und morgen ihm allein gehörten und denen man nicht ansah, daß sie geliehen
waren und daß sie schon zu wachsen und zu schwellen begannen in den
Notizbüchern Kapturaks. Er liebte diese zivile Anonymität, in der er den
Wiener Nordbahnhof passierte und verließ. Niemand erkannte ihn. Offiziere
und Soldaten gingen an ihm vorbei. Er grüßte nicht und wurde nicht gegrüßt.
Manchmal erhob sich sein Arm zum militärischen Gruß von selbst. Er
erinnerte sich schnell an sein Zivil und ließ ihn wieder sinken. Die Weste zum
Beispiel machte dem Leutnant Trotta ein kindisches Vergnügen. Er steckte die
Hände in alle ihre Taschen, die er nicht zu gebrauchen wußte. Und er
liebkoste mit eitlen Fingern den Knoten der Krawatte über dem Ausschnitt,
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik