Seite - 222 - in Radetzkymarsch
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und lediglich vorgeträumt zu haben glaubte. Die stillen Restaurants öffneten
sich. Die stillen Nachtmähler begannen, in Winkeln, in denen der Wein, den
man trank, auch zu wachsen schien, gereift von der Liebe, die hier im
Dunkeln ewig leuchtete. Der Abschied kam, eine letzte Umarmung am
Nachmittag, von der ständig tickenden Mahnung der Taschenuhr, die auf dem
Nachttisch lag, begleitet und schon erfüllt von der Freude auf das nächste
Wiedersehen; und die Hast, mit der man zum Zug drängte; und der allerletzte
Kuß auf dem Trittbrett und die im letzten Augenblick aufgegebene Hoffnung,
doch noch mitzufahren.
Müde, aber erfüllt von allen Süßigkeiten der Welt und der Liebe, kam
Leutnant Trotta wieder in seinem Garnisonort an. Sein Diener Onufrij hielt
die Uniform schon bereit. Trotta zog sich im Hinterzimmer des Restaurants
um und fuhr in die Kaserne. Er ging in die Kompaniekanzlei. Alles in
Ordnung, nichts vorgefallen. Hauptmann Jedlicek war froh, heiter, wuchtig
und gesund wie immer. Leutnant Trotta fühlte sich erleichtert und zugleich
enttäuscht. In einem verborgenen Winkel seines Herzens hatte er eine
Katastrophe erhofft, die ihm den weiteren Dienst in der Armee unmöglich
gemacht hätte. Er wäre dann sofort umgekehrt. Aber es war nichts
vorgefallen. Und also mußte er noch zwölf Tage hier warten, eingesperrt
zwischen den vier Mauern des Kasernenhofes, innerhalb der wüsten Gäßchen
dieser Stadt. Er warf einen Blick auf die Schießfiguren rings an den Wänden
des Kasernenhofes. Kleine, blaue Männchen, von Schüssen zerfetzt und
wieder nachgemalt, erschienen sie dem Leutnant wie boshafte Kobolde,
Hausgeister der Kaserne, sie selbst drohend mit Waffen, von denen sie
getroffen wurden, keine Ziele mehr, sondern gefährliche Schützen. Sobald er
ins Hotel Brodnitzer kam, sein kahles Zimmer betrat, sich aufs eiserne Bett
warf, faßte er den Entschluß, von seinem nächsten Urlaub nicht mehr in die
Garnison zurückzukehren.
Diesen Entschluß auszuführen, war er nicht imstande. Er wußte es auch.
Und er wartete in Wirklichkeit auf irgendein merkwürdiges Glück, das ihm
eines Tages in die Arme fallen und ihn befreien würde für alle Zeiten: von der
Armee und von der Notwendigkeit, sie aus freien Stücken zu verlassen. Alles,
was er tun konnte, bestand darin, daß er aufhörte, seinem Vater zu schreiben,
und daß er ein paar Briefe des Bezirkshauptmanns liegenließ, um sie später
einmal zu öffnen; später einmal …
Die nächsten zwölf Tage rollten vorüber. Er öffnete den Kleiderkasten,
betrachtete seinen Zivilanzug und wartete auf das Telegramm. Immer kam es
um diese Stunde, in der Dämmerung, kurz vor dem Anbruch der Nacht, wie
ein Vogel, der heimkehrt in sein Nest. Aber heute kam es nicht, auch nicht, als
die Nacht schon eingebrochen war. Der Leutnant zündete kein Licht an, um
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik