Seite - 234 - in Radetzkymarsch
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Sonne stieg so schnell hoch am Himmel, daß er glaubte, der Mittag sei schon
gekommen. Aber es war erst neun Uhr morgens. Endlich hörte er die eiserne
Zunge des Spatens an etwas Hartes, Klingendes stoßen. Er legte den Spaten
weg, begann, mit der Harke zärtlich die gelockerte Erde zu streicheln, warf
die Harke weg, legte sich auf den Boden und kämmte mit allen zehn Fingern
die lockeren Krümchen der feuchten Erde beiseite. Er tastete zuerst ein
Taschentuch aus Leinen, suchte nach dem Knoten, zog es heraus. Da war sein
Geld: zwanzig goldene Zehn-Kronen-Dukaten.
Er gab sich keine Zeit nachzuzählen. Er verbarg den Schatz in der
Hosentasche und ging zum jüdischen Schankwirt des Dorfes Burdlaki, einem
gewissen Hirsch Beniower, dem einzigen Bankier der Welt, den er persönlich
kannte. »Ich kenne dich!« sagte Hirsch Beniower, »ich habe auch deinen
Vater gekannt! – Brauchst du Zucker, Mehl, russischen Tabak oder Geld?«
»Geld!« sagte Onufrij.
»Wieviel brauchst du?« fragte Beniower.
»Sehr viel!« sagte Onufrij – und streckte die Arme aus, soweit er konnte,
um zu zeigen, wieviel er brauche.
»Gut«, sagte Beniower, »wir wollen sehen, wieviel du hast!«
Und Beniower schlug ein großes Buch auf. In diesem Buch stand
verzeichnet, daß Onufrij Kolohin viereinhalb Morgen besaß. Beniower war
bereit, dreihundert Kronen darauf zu leihen.
»Gehn wir zum Bürgermeister!« sagte Beniower. Er rief seine Frau,
übergab ihr den Laden und ging mit Onufrij Kolohin zum Bürgermeister.
Hier gab er Onufrij dreihundert Kronen. Onufrij setzte sich an einen
wurmstichigen, braunen Tisch und begann, seinen Namen unter ein
Schriftstück zu schreiben. Er legte die Mütze ab. Die Sonne stand schon hoch
am Himmel. Auch durch die winzigen Fenster der Bauernhütte, in welcher
der Bürgermeister von Burdlaki amtierte, vermochte sie ihre bereits
brennenden Strahlen zu schicken. Onufrij schwitzte. Auf seiner kurzen Stirn
wuchsen die Schweißperlen wie kristallene, durchsichtige Beulen. Jeder
Buchstabe, den Onufrij schrieb, weckte eine kristallene Beule auf seiner Stirn.
Diese Beulen rannen, rannen hinunter wie Tränen, die das Gehirn Onufrijs
geweint hatte. Endlich stand sein Name unter dem Schriftstück. Und die
zwanzig goldenen Zehn-Kronen-Dukaten in der Hosentasche und die
dreihundert papierenen Kronenscheine in der Tasche der Bluse, begann
Onufrij Kolohin seine Rückwanderung.
Er erschien am Nachmittag im Hotel. Er ging ins Café, fragte nach seinem
Herrn und stellte sich inmitten der Kartenspieler auf, als er Trotta erblickte, so
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik