Seite - 5 - in Zipper und sein Vater
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1Kapitel
Ich hatte keinen Vater – das heißt: ich habe meinen Vater nie gekannt –,
Zipper aber besaß einen. Das verlieh meinem Freund ein besonderes
Ansehen, als wenn er einen Papagei oder einen Bernhardiner gehabt hätte.
Wenn Arnold sagte: »Ich gehe mit meinem Vater morgen auf den Kobenzl«,
so wünschte ich mir, auch einen Vater zu haben. Man konnte ihn bei der Hand
nehmen, seine Unterschrift nachahmen, man konnte von ihm Rügen, Strafen,
Belohnungen, Prügel erhalten. Manchmal wollte ich meine Mutter
veranlassen, noch einmal zu heiraten; denn selbst ein Stiefvater kam mir
begehrenswert vor. Die Lage der Dinge ließ es aber nicht zu.
Der junge Zipper protzte immer mit seinem Vater. Dies hatte ihm der Vater
gekauft, jenes verboten. Dies hatte er ihm versprochen, jenes versagt. Mit
dem Lehrer wollte der Vater sprechen, einen Hauslehrer wollte er bestellen,
Arnold eine Uhr zur Konfirmation kaufen und ihm ein eigenes Zimmer
einrichten. Selbst wenn der Vater dem Sohn eine Unannehmlichkeit zufügte,
so war es, als hätte Arnold sie selbst gewünscht. Der Vater war ein mächtiger,
aber zugleich auch ein dienstbarer Geist.
Manchmal kam ich mit Arnolds Vater zusammen. Eine Viertelstunde lang
behandelte er mich wie seinen eigenen Sohn. Er sagte mir zum Beispiel:
»Mach den Kragen zu, es geht ein Nordwest, man kann Halsweh kriegen.«
Oder: »Zeig mir mal deine Hand her, du hast dich ja verletzt, wir wollen
drüben in die Apotheke gehen und etwas draufstreichen.« Oder: »Sag deiner
Mutter, sie soll dich zum Friseur schicken. Im Hochsommer trägt man keine
langen Haare.« Oder: »Kannst du schon schwimmen? Ein junger Mann muß
schwimmen können!« Dann war es, als hätte mir der junge Zipper den alten
geliehen. Ich war meinem Freund dankbar, hatte aber zugleich das peinliche
Gefühl, daß ich ihm seinen Vater zurückgeben müsse, wie ich ihm den
»Robinson« zurückgeben mußte. Geliehene Sachen waren schließlich nicht
eigene.
Immerhin durfte ich zuweilen Zippers Vater längere Zeit behalten, wenn
auch nur, um ihn mit Arnold zu teilen. Wir gingen gelegentlich alle drei zu
besonderen Anlässen, wir bestiegen bedeutende Türme, besichtigten
Menagerien, Mißgeburten, Liliputaner, Tanagratheater und den Schnelläufer,
der in zehn Minuten die lange Lastenstraße zurücklegte. Damals behauptete
Zipper, es wären eigentlich elf Minuten und fünfundvierzig Sekunden
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110