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Kapitel
Die Stammgäste begrüßten ihn so herzlich, nicht etwa, weil sie sich über
seine Wiederkunft aufrichtig freuten, sondern weil seine Heimkehr ein
Ereignis war. Ihr Leben war arm an Ereignissen. Die Stammgäste saßen im
Kaffeehaus wie Belagerte in einer Festung. Nichts aus der Welt gelangte zu
ihnen, keiner von ihnen erreichte die Welt. Sie hätten sich ebenso
gefreut,wenn sie in diesem Augenblick nicht Arnold wiedergesehen, sondern
wenn sie etwa erfahren hätten, daß er Selbstmord begangen habe. Sie
mochten ahnen, daß etwas Wichtiges, etwas Geheimnisvolles in sein Leben
getreten sei. Denn sie hatten es noch niemals gesehen, daß jemand aus einem
gleichgültigen Grund länger als eine Woche aus dem Kaffeehaus
weggeblieben wäre.
Es war wirklich eine wichtige Veränderung mit Arnold vorgegangen: er
hatte Fräulein Erna Wilder getroffen.
Natürlich erzählte er das nicht bei Licht. Arnold Zipper sprach von ihr –
und überhaupt, wenn er ein Geständnis abzulegen hatte – nur in der Nacht,
wenn wir nach Hause gingen. Er erzählte nicht die ganze Wahrheit. Er sagte
nur, nachdem wir eine halbe Stunde schweigsam nebeneinander gegangen
waren, und während ich fühlte, wie er nach einem passenden Anfang suchte –
er sagte nur:
»Ich habe Erna Wilder getroffen.«
Getroffen war ein falsches Wort. Arnold hatte sie aufgesucht, wie ich später
erfahren sollte. Da sie die Wohnung ihrer Eltern vor einem Jahr verlassen
hatte, mußte sich Arnold in der Schauspielschule erkundigen. Man gab ihm
nicht ihre Adresse. Er wartete also vor der Schule, wie ein verliebter junger
Mann es tut. Er sah sie herauskommen. Er ging ihr nach, bis sie ihr Haustor
erreicht hatte und von ihrer Begleitung Abschied nahm. Bevor sie die Treppe
hinaufstieg, grüßte Zipper und fragte, wie es ihr gehe.
Das alles erfuhr ich aber erst später. Vorläufig begnügte sich Arnold mit der
Mitteilung, daß Erna ein »netter, sympathischer Mensch« geworden sei. Sie
hätte sich stark verändert seit dem Sommer im schlesischen Kurort. Das sei
schließlich kein Wunder.
Auf solche allgemeine Mitteilungen beschränkte sich Arnold.
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Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110