Seite - 36 - in Zipper und sein Vater
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8Kapitel
Dennoch hörte eines Tages der Krieg auf. Die Monarchie zerfiel. Wir kamen
nach Hause.
Im letzten halben Jahr hatte ich Arnold nicht gesehen. Er war krank
geworden und als Rekonvaleszent zu einem Bahnhofskommando gekommen.
Ich kehrte infolge verschiedener widriger Umstände erst Anfang Dezember
1919 zurück. Da war Arnold schon wieder in Zivil. Es stand fest, daß er nicht
mehr den Doktor machen würde. Er mußte schnell eine Arbeit suchen.
Es war ein häßlicher Winter im Jahre 1919. Er war feucht, der Schnee hielt
kaum einen Tag. Der Wind galoppierte durch die Stadt wie ein nasser Mörder.
Die Straßen waren finster. Italienische Offiziere trugen warme, wollene
Schals, Gamaschen, knarrende gelbe Ledertaschen, sie gingen siegreich
herum, sie waren die Verbündeten des Winters und überhaupt Verbündete.
Aus Amerika kamen: Cornedbeef, Pastoren mit Weihnachtsbäumen für arme
Kinder und die befreiten Zivilgefangenen. Aus Rußland und aus Italien
kamen die Heimkehrer. Viele, die sie erwartet hatten, starben und machten
ihnen Platz. Die Börse war lebhaft, und das Geld wurde wertlos. Eine Million
junger Männer ging herum und suchte Arbeit. Arnold war unter ihnen.
Bis zu dieser Zeit hatte ich Arnold nur im Schatten seines Vaters und seines
Hauses gesehen, ich hatte nur den Mitschüler Zipper gekannt, der in der
dritten Bank an der Ecke saß, immer einen halben Kopf kleiner war als die
»ganze Klasse«, sich durch viele Sommersprossen vor den andern
auszeichnete, die mich an geröstete Semmelbrösel erinnerten, der manchmal
fleißig und manchmal faul war, wie alle andern, und Gedichte »fließend«
aufsagte, wie es sein Vater ja verlangte. Dann war Arnold ein Student wie
viele andere. Er liebte ein Mädchen, das ihm Briefe an die Universität
schickte, sein Name stand oft auf der schwarzen Tafel bei der Portierloge, der
letzte Name (nicht viele Namen begannen mit Z). Dann wurde Arnold Soldat.
Und er verbarg wie alle seine Physiognomie. Vielleicht hatte er bis dahin auch
noch keine gehabt. Ich sah ihn wachsen, älter werden, Geburtstage feiern.
Aber ich sah nicht, wie er ein Gesicht bekam. Ich betrachtete ihn niemals, ich
glaubte, ihn so genau zu kennen. Acht Monate vorher hatte ich ihn in einer
Uniform gesehen, die wie die meisten Uniformen der jungen Offiziere jener
kriegerischen Zeit immer um ein wenig gegen die Vorschriften verstieß – um
das kleine bißchen gegen die Vorschriften verstieß, das genügte, die
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110