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9Kapitel
Im Hochsommer kam Zippers Bruder aus Brasilien.
Ich hatte ihn früher nie gesehen. Denn wenn er gekommen war, lud man
mich nicht ein. Man sah ihn nur einmal im Jahr, man wollte mit ihm allein
sein. Sein Aufenthalt kostete Geld, und man gestand ihm nicht, daß man
»knapp war«. Die Zippers konnten gerade noch ihn bewirten, und er mußte
für zehn Männer essen – nach den Beschreibungen, die mir Arnold gab. Nach
diesen Beschreibungen malte ich mir den Onkel Arnolds wunderbar aus. Vor
allem war er ein Farmer. Ein Mann also, der die Phantasie bewegt. Ein Mann,
der Sklaven hält. Ein Mann, der eventuell wilde Pferde einfängt. Ein Mann,
der vielleicht eines Tages eine Goldmine findet oder sie schon gefunden hat.
Ein Mann ohne Rock und Weste, mit breitem Gürtel und großem Panamahut.
Die Tatsache, daß der Bruder dieses braven Bürgers Zipper ein Farmer war,
schien mir noch weniger wahrscheinlich als die Geschichte von den
merkwürdigen Umständen in Monte Carlo.
Dennoch war es so. Arnolds Onkel war ein echter Farmer aus Brasilien.
Diesmal sollte ich ihn sehen.
Er kam an einem heißen Tag, es war im Juli oder im August. Am
Nachmittag gingen der alte und der junge Zipper zur Bahn.
Am nächsten Tag aß ich Mittag mit dem Farmer.
Er war wirklich beinahe so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Vergeblich
suchte ich nach einer Familienähnlichkeit mit dem alten Zipper im Gesicht
seines Bruders. Aber er war gar nicht wie ein Bruder, er war wie eine
merkwürdige Geschichte, eine Geschichte aus Brasilien. Er war um drei
Köpfe größer als der alte Zipper. Er hatte einen glattrasierten Kopf, einen
dunkelbraunen, gleichsam durchgesottenen Nacken, eine starke rote Nase und
winzige helle Augen unter dichten und kurzen Brauen. Sein Blick war spitz
und schnell wie ein Pfeil. Seine Augen waren wie helle Lichter in einem
dunklen Abend. Sein Kinn war ein vollendetes Trapez. Breit und hart,
erinnerte es mich an eine Art Pult oder an einen glatten, hautüberzogenen
Stein. An Stein erinnerte übrigens der ganze Mann. Er stand wie eine Mauer.
Er schwieg wie eine Mauer. Menschlicher wurde er, wenn er trank. Er
schickte Arnold um einige Flaschen Wein. Er hatte selbst von unterwegs
einige mitgebracht. Im Vorzimmer stand sein merkwürdiger Koffer. Nur einen
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110