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Kapitel
Am nächsten Vormittag begegnete ich einem gemeinsamen Freund von
Arnold und mir, dem Eduard P.
Hager und leise, immer in der Nähe der Wände und der Straßenränder,
niemals in der Mitte eines Raumes wandelnd,erinnerte P. an einen Schatten,
der sich von seinem Körper frei gemacht hat, nie mehr nach ihm sucht und
auf ein körperliches Dasein verzichtet hat. Er wandelt nicht nur an den
Rändern der Straße, sondern auch an den Rändern der Ereignisse. Er säumte
sie ein gewissermaßen. Von außen her und als gehörte er nicht zu dieser Welt,
nahm er Stellung zu ihr und ihren Vorgängen.
Zwar tat er es mit Leidenschaft. Zwar konnte er sich über Häßliches
aufregen, Mittelmäßiges verachten, Schönes bewundern. Aber selbst dann
war er eher ein eifernder Geist als ein eifernder Mensch, seine Leidenschaft
kam aus dem Jenseits, das Maß, das er an die Menschen und ihre Taten
anlegte, war kein irdisches und sein Urteil infolgedessen ungerecht. Er hatte
eine himmlische oder eine höllische, jedenfalls keine menschliche
Gerechtigkeit. Von allen Menschen, die ich kannte, scheint er am ehesten
begabt, die unverständlichen Schicksale, die aus unbekannten Händen
verschüttet werden, zu begreifen.
Er kam aus dem Kaffeehaus der Literaten und Künstler, auch er. Aber dort
war er nicht Gast wie alle andern, sondern eine Art Geist des Hauses, ein
Gespenst vielleicht, die Seele eines längst verschollenen Schriftstellers, der
keine Bücher hinterlassen hatte und der in einem Kreis mit dem Jenseits
vertrauter Leute keine Veranlassung fand, nach üblicher Gespenstermanier zu
spuken, sondern Grund hatte, sich mit ihnen menschlich zu unterhalten. Er las
keine Bücher, er besuchte kein Theater, aber er wußte, was geschrieben und
was gespielt wurde. Er gab keine Urteile ab, es schien ihm leichtsinnig oder
auch zu geringschätzig, ein Urteil über ein einzelnes Werk abzugeben. Er
wies jeder Erscheinung ihren Platz im Jahrhundert an, und von dem Gipfel
aus, von dem man auf drei oder sechs Jahrtausende herabschaut, sprach er
über ein winziges Buch, das in einem kleinen Schublädchen seines Jahrzehnts
seinen Platz und sein Vergessen gefunden hatte.
Ich erinnerte mich, daß ich P. immer gemieden hatte aus Angst vor der
Höhe, auf der er sich befand und von der es eisig auf mich herabwehte.
Schließlich lebt man, ist jung, hat Hoffnungen, möchte zwar ewig dasein,
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110