Seite - 22 - in Zipper und sein Vater
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5Kapitel
Eines Abends, es war Sommer, neun Uhr, knapp nach dem Abendessen, just
um die Stunde, in der die Bewohner des Viertels ihre Wohnungen verlassen
(die Frauen ohne Hüte, die Kinder an der Hand, die Hunde ohne Leine und
die Männer ohne Weste), um in den nächsten kleinen Park zu gehen oder auf
den Kai, da sagte Zipper plötzlich zu seiner Frau:
»Ich habe heute den Salon vermietet.«
An diesem Abend ging die Familie Zipper nicht mehr an die Luft. Alle, die
im Zimmer waren – auch ich, der ich gekommen war, meinen Freund
abzuholen –, dachten, der alte Zipper sei verrückt geworden. Die Frau Zipper
stand auf, trat hinter die Lehne ihres Sessels, wie hinter eine Schanze, um sich
zu verteidigen. Als sie sah, daß ihr Mann ruhig saß, blieb auch sie
bewegungslos stehen. Sie sah ihn gerade an, sie schien am schnellsten von
uns zu begreifen. Auf einmal begann sie den Kopf zu schütteln, es war, als
bekräftige sie etwas, was sie nur für sich gedacht hatte, als bejahte sie
irgendeinem Unsichtbaren eine Frage, die er, nur ihr hörbar, gestellt hatte. Ja,
ja, ja, ja, sagte fortwährend ihr armer Kopf, und ihre knochigen harten Hände
lagen regungslos auf der Stuhllehne. Ja, ja, ja, ja, nickte ihr Kopf, und nichts
sonst bewegte sich im Zimmer. Arnold saß ruhig da, Cäsar war schon
fortgegangen, ich kauerte auf der Ecke eines Sofas, am Kopfende des Tisches
saß der alte Zipper, und ihm gegenüber stand seine Frau und nickte mit dem
Kopf.
»Was nickst du so?« sagte Zipper. – Sie antwortete nicht – das heißt: ihr
Mund antwortete nicht, aber ihr blasses feuchtes Auge antwortete, es ließ eine
Träne fallen. Ich erinnere mich, wie sie glänzte, diese Träne auf dem gelben
Gesicht.
»Da läßt sich mein Freund, der Sekretär Wandl«, begann Zipper, »von
seiner Frau scheiden. Das heißt, ich meine: nur von Tisch und Bett. Er sucht
eine Wohnung. Wo soll er hin? ›Kommen Sie zu mir!‹ sag ich ihm. ›Ich hab
einen Salon frei, ein Bett kann ich Ihnen nicht geben, aber jetzt werden Sie
doch froh sein, eine Zeitlang kein Bett zu sehen, glaub ich, was?‹ Darauf lacht
er natürlich. Von dem Preis –«
»Ja, was zahlt er?« unterbrach ihn die Frau Zipper. Es war zum erstenmal,
daß ich die Frau Zipper ihren Mann unterbrechen hörte. Sie dachte an die
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110