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24 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
riale und sprachpatriotische Bezugspunkte. Der auf Land und Spra-
che gerichtete Patriotismus zehrte die Legitimität der Dynastie und
der Re
ligion dabei nicht auf, vielmehr reicherte er die beiden älteren
Bezugsgrößen so sehr mit neuen Gehalten an, dass ihre identitätsstif-
tende Qualität allmählich von sprach- und landespatriotischen Wert-
setzungen abzuhängen begann.3 Damit ist der Rahmen für die folgende
Analyse knapp umrissen. Sie widmet sich zunächst dem konzeptuellen
Aufbau der Vaterlandsliebe der Aufklärung, wie sie Joseph von Son-
nenfels repräsentierte, und untersucht die feinstufigen Übergänge,
die Sonnenfels’ Tätigkeit mit den Landespatriotismen der Monarchie
verbanden. Im nächsten Schritt wird die romantisch-sprachnationale
Vaterlandsliebe des frühen 19. Jahrhunderts aufgearbeitet, die Joseph
von Hormayr mit seinem Historikerkreis propagierte, und nachgewie-
sen, wie dieses Modell das national-liberale Weltbürgertum der Völ-
kerfreundschaft im späteren Vormärz prägte; schließlich werden die
Zerreißprobe und der Zerfall dieses nationalliberalen Weltbürgertums
im Revolutionsjahr 1848 rekonstruiert.
1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels
Joseph von Sonnenfels, getaufter Spross aus jüdischem Hause, der als
Sohn eines Nikolsburger Hebraisten und Talmudgelehrten zum Begrün-
der der Staatswissenschaften in den habsburgischen Ländern werden
sollte, beschrieb seinen sozialen Status als »Aussichselbstgeborener«.4
Für den Universitätslehrer und self-made man Sonnenfels war es ganz
natürlich, dass die Gleichheit der Bürger die Voraussetzung für die
wahre Vaterlandsliebe bildete: diese Gleichheit war eine doppelte, sie
betraf die Aufhebung horizontaler und vertikaler Differenzen zwischen
Ländern und Ständen. Alle Bürger waren vor dem Gesetz gleichberech-
tigt und begegneten einander als Gleiche, weil sie Untertanen dessel-
ben Monarchen waren. Sonnenfels’ Diagnose war sozialrechtlich und
kommunikationstechnisch unterfüttert: Die Liebe zur Scholle des Va-
terlandes verhieß Glückseligkeit – die Rechtsstaatlichkeit, das Grund-
eigentum und die Pflege der Muttersprache, die den Gottschedjünger
Sonnenfels beschäftigte, waren ihre wichtigsten Garanten.5 Sonnenfels
3 Vgl. Kap. III.5
4 Grete Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, in: Judentum im Zeitalter der Auf-
klärung, Wolfenbüttel 1977, 211-228, 212. Zu Sonnenfels vgl. Kap. V.3–V.6.
5 »Eigenthum des Bodens und persönliche Freyheit machen ein feldbauendes
Volk zu Patrioten. Die Iloten [Heloten] sahen Sparta nicht als ihr Vaterland
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513