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354 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Von dem Oberhaupte des Staates als dem, mittelst der Staatsver-
bindung gewählten sichtbaren Organe der Vernunft, werden diese
Rechte in den Gesetzen genauer und deutlicher bestimmt, auf die
mannigfaltigen Verhältnisse des bürgerlichen Lebens angewendet
und durch die vereinte, unwiderstehliche Macht sicher gestellt.66
Der Monarch fungiert also als Kundmachungsinstanz, er übersetzt
die Rechte aller menschlichen Wesen in eine Privatrechtskodifikation.
Er wendet diese vom göttlichen Gesetzgeber verkündigten Rechte als
»mittelst der Staatsverbindung gewähltes sichtbares Organ der Ver-
nunft« auf die bürgerlichen Verhältnisse in seinem Herrschaftsgebiet
an und garantiert ihre Gültigkeit durch die Staatsgewalt. Die Rechte
selbst und damit der Normhorizont der Gesetzgebung leuchten frei-
lich jedem vernünftigen Wesen ein,67 die Gesetzgebung entspringt
nicht mehr als »Rechtswohltat« dem geheimen Ratschluss des geblüts-
charismatisch legitimierten Monarchen, sie folgt übergeordneten und
gemeinverständlichen Supernormen.
2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft.
Franz von Zeiller und sein Erbe
Franz Grillparzers Selbstbiographie markiert das finstere Elternhaus
am Bauernmarkt als muffige Familiengruft, in deren Schlupfwinkeln
Ratten und allerlei Spukgestalten lauerten. Gerne floh der junge Jurist
Grillparzer in sonnigere Gefilde: Ein solcher Lichtblick war die »Pri-
vatakademie«, die Grillparzer regelmäßig mit Studienkollegen im Hause
seine Freundes Joseph Wohlgemuth abhielt, wo man sich mehrmals
im Monat zum Frühstück traf, um die Schriften Kants zu diskutieren.
Wohlgemuth, dessen Familienbibliothek ein »wohl versehenes Rüst-
haus« der Kant’schen Philosophie bot, übte nebenher Violine, während
66 Ofner, Ur-Entwurf, II, 468.
67 So hatte Erzherzog Franz im Dezember 1790 anlässlich der Wünsche der
niederösterreichischen Landstände, die sich auf die Wiederherstellung der
alten Verfassung richteten, notiert: »Auch sollten die Stände erkennen, dass
der Bauer bereits die Rechte einsieht, welche er als Mensch fordern kann
und dass er verlangen darf, als solcher behandelt zu werden. Ihn durch Ein-
führung der alten ständischen Rechte wieder zum Lastthier herabwürdigen
wollen, würde von den übelsten Folgen für die Stände selbst sein. Auch ist
es sehr auffallend, dass die Stände sich bestreben, den Einfluss des Souveräns
durch seine Stellen auf das Wohl der übrigen Unterthanen so viel möglich zu
beseitigen«, Bidermann, Verfassungs-Krisis, 43, Fn. 1.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513