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219Bolzanisten
versus Herbartianer
wurde ein Exempel statuiert, weil er als Aufwiegler der akademischen
Jugend verdächtig war, zudem wurde er des Kantianismus bezichtigt,
dessen Scharten die restaurativen Geistlichen bei sich selbst auswetzen
wollten.74
Bernard Bolzanos Universalienrealismus brachte ihn und seine Schü-
ler in Widerspruch zu Kant. Zugleich stand der Antipsychologismus
Bolzanos in einem Spannungsverhältnis zu Herbart, dessen österrei-
chische Anhänger Bolzano als Vorläufer rekrutierten. Auf die Her-
bartianer und ihr Verhältnis zu Bolzano wird im folgenden Abschnitt
eingegangen, danach auf die Quellen und Ausprägungen des induktiven
»positiven« Antiidealismus.
3. Bolzanisten versus Herbartianer
Die jungen liberalen Herbartianer um Franz Serafin Exner fassten in
den 1830er Jahren in Prag und Wien Fuß, nach 1848 wurden sie zu
einer wichtigen Stütze für Leo Thun-Hohensteins Universitäts- und
Schulreformen.75 Der böhmische Aristokrat Leo Thun-Hohenstein
war mit Bolzanos Schriften gut vertraut, er hatte eine Erziehung im
reformkatholischen Sinn genossen.76 Sein Lehrer war ein Anhänger
Bolzanos gewesen, zudem unterstützte Thuns Familie den Prager Phi-
losophen finanziell, nachdem dieser seinen Lehrstuhl verloren hatte.
Auch die Herbartianer beriefen sich auf Bolzano,77 so hat sich das Ur-
teil eingebürgert, die Unterrichtsreformen seien »im Geiste Bolzanos«
74 Vgl. die Glosse Franz Egerers gegen »[die] Kantianer, welche in der öster-
reichischen Theologie […] lange Zeit eine große, für die Kirche nichts we-
niger als segensreiche Rolle spielten, und sich dabei viel mit ihrer Klugheit,
Demuth und practischen Tüchtigkeit zu rühmen wußten, haben gewisse
Schlagwörter von ihrer Glaubensdemuth und angebeteten Vernunftgefan-
genschaft erfunden, mit denen die Nachzügler der besagten Schule auch jetzt
noch ganz im kantischen Sinne Geschäfte zu machen gedenken«, Franz Ege-
rer, Kants Nachzügler, in: WK 1850, 517.
75 Zu Exner (1802-1853) Robert Zimmermann, Nekrolog Dr. Franz Exner, in:
AM 5 (1853), 500-506; Tretera, J. F. Herbart a jeho stoupenci, 156-170.
76 Vgl. Franz L. Fillafer, Leo Thun und die Aufklärung. Wissenschaftsideal,
Berufungspolitik und Deutungskämpfe, in: Aichner, Mazohl (Hg.), Die
Thun-Hohenstein’schen Universitätsreformen, 55-75. Zu Thuns Reform der
Juristenausbildung vgl. Kap. VI.11.
77 Vgl. Franz S. Exner, Über Nominalismus und Realismus, Prag 1842, 5-7;
ders., Über Leibnitz’ens Universal-Wissenschaft, Prag 1843, 23-25 und 39-
41; ders., Über die Lehre von der Einheit des Denkens und des Seins, Prag
1848, 13-15, 30-32.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513