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64 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
So konnte aus dem gemeinsamen Feind des Vormärz, der die Völker-
verständigung sabotierte, der innere, der Nation wesensmäßig fremde
Feind werden. Gegen diese Verhärtung wurde 1848 eindringlich argu-
mentiert. So sprachen etwa im Juni 1848 die drei Philosophen Ignác J.
Hanuš, Jan Helcelet und Franz T. Bratranek beim Wiener revolutio-
nären Sicherheitsausschuss vor. Als Augenzeugen des Pfingstaufstan-
des berichteten sie über Fürst Windischgrätz’ brutales Vorgehen gegen
die Zivilbevölkerung von Prag und suchten so, die von der deutsch-
nationalen Presse gestreuten Gerüchte zu widerlegen, Windischgrätz
hätte mit der Eroberung Prags die deutschsprachigen Stadtbewohner
vor einer panslawistischen Verschwörung gerettet.114 Irreversibel war
die ausgelöste Dynamik dennoch, konsequenterweise schoben ein-
ander nationale Publizisten nach 1848 gegenseitig die Schuld für das
Scheitern des liberalen Konstitutionalismus in die Schuhe.115
Ergebnisse
Im späten 18. Jahrhundert vertrug sich die von den staatlichen Be-
hörden forcierte gesamtvaterländische Loyalität noch gut mit den
Landespatriotismen der Monarchie. Einige radikale Aufklärer lehn-
ten den Patriotismus als fürsorgestaatliches Verfahren zur Abrichtung
der Untertanen ab. Nach dem Tod Josephs II. verschoben sich die
Koordinaten des Patriotismus. Die aufgeklärten Josephiner in der Be-
amtenschaft setzten bis 1848 auf die Integration der Monarchie durch
Rechtseinheit und Rechtssicherheit. Der Plan Josephs II., die Monar-
114 Vgl. Josef Václav Frič, Paměti, 1829-1890 [Erinnerungen], Bd. II, Praha
1960, 210.
115 Am 28. 5. 1849 schrieb Anton von Doblhoff an Viktor Andrian über seine
Tätigkeit als Minister von Mai bis November 1848: »Der Kampf, den wir
gegen eine Volks-Souverainitaet wildester Art und gegen einen maaßlosen
wuthschnaubenden Preß- und Vereins-Terrorismus zu führen hatten, kann
nicht beschrieben werden und kann auch nicht mehr vorkommen; speziell
war ich ausersehen den Eisbrecher des ungestümsten Anpralles aller ent-
fesselten Elemente des Aufruhrs abzugeben, – hiezu die italienischen und
vorzugsweise die ungarischen Intriguen etc. – wir mußten unterliegen, und
mit uns die Säulen eines liberalen Constitutionalismus zusammenstürzen!
–
auch meine Riesennatur war am Ende gebrochen […] und ich glaube, wir
hätten den Schiffbruch noch zurückgehalten, – denn wir hatten das Ver-
trauen der Majorität im Reichstage und in den Provinzen, – hätten uns die
ungarischen Angelegenheiten und Wütheriche nicht das Sturmruder gebro-
chen.« Zit. n. Andrian-Werburg, »Österreich wird meine Stimme erkennen
lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste«, II, 170, Fn. 2.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513