Page - 401 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 401 -
Text of the Page - 401 -
401Gesellschaftsvertrag
und Revolutionsprävention
8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention:
Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem
Auch die Staatsrechtler des Vormärz schmorten nicht im eigenen Saft,
sie begnügten sich nicht damit, die offiziösen Lehrbücher des »natür-
lichen öffentlichen Rechts«233 wiederzugeben. Zu hinterfragen ist Ru-
dolf Smends Bemerkung, es habe im vormärzlichen Österreich keine
Wissenschaft vom öffentlichen Recht gegeben.234 In der Staatstheorie
finden sich Vertreter des vernunftrechtlichen Gesellschaftsvertrags
und der Trennung von Recht und Moral ebenso wie junghegelianische
Vorkämpfer eines »sittlichen Staats«; Beiträge von Juristen, die den
Staat als kontraktvoluntaristisches Aggregat von Subjekten ansehen,
stehen in den Fachzeitschriften der Epoche neben Aufsätzen, die ein
»beseeltes«, von einem »Geist« durchwirktes Gemeinwesen herbei-
schreiben. Diese Zielkonflikte betrafen aber nicht nur den Staatsbe-
griff, sie berührten die formalen Normschöpfungs- und -ermittlungs-
verfahren: In den 1830er und 1840er Jahren wurden diese Fragen der
Methoden und Begründungstechniken breit diskutiert, vor allem die
»syllogistische« Methode der ABGB-Auslegung. Analoge Befunde
liefert das damalige Kirchenrecht: Mihály Szibenliszt in Pest rekonst-
ruierte etwa den Begriff der societas imperfecta aus Martinis Lehrbuch,
er brach mit der Vorrangstellung und Verstaatlichung der katholischen
Kirche. Die Kirchen im Plural sind bei Szibenliszt autonome Privat-
gesellschaften, aus dem »Subordinations-Nexus« der monarchischen
Kirchenvogtei löst Szibenliszt sie heraus; ähnliche Verschiebungen
sind auch in Tivadar Paulers Arbeiten anzutreffen.235
Bis 1810 war die Lehre des Staats- und Lehenrechts (ius publicum
et feudale) in den Erbländern auf die Rechtsurkunden und -praxis
des Heiligen Römischen Reichs justiert geblieben. Ein eigenständiges
Lehrbuch, welches auch das österreichisch-erbländische Staatsrecht
berücksichtigt hätte, wurde seit den 1760er Jahren immer wieder
gefordert, kam aber bis zu Zeillers Reform des Studienplans nach
233 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde.,
München 1988-2012, I, 295-297.
234 Rudolf Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechts-
lehre des 19.
Jahrhunderts auf das Leben in Verfassung und Verwaltung, in:
ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin
1968, 326-345, 330.
235 Petrasovszky, Szibenliszt Mihály természetjoga, 253-269; Szabadfalvi, A
magyar észjogi iskola.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513