Page - 12 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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die er in allen Formen und Phasen verehrt (»wie es auch sei, das Leben, es ist
gut«). Nichts nun ist diesen Gequälten, Gejagten, Getriebenen, den vom
Dämon durch die Welt Gerissenen fremder, als der Wirklichkeit solch hohen
Wert oder überhaupt irgendeinen zu geben: sie kennen nur die Unendlichkeit,
und als einzigen Weg, sie zu erreichen, die Kunst. Darum stellen sie die Kunst
über das Leben, die Dichtung über die Realität, sie hämmern sich wie
Michelangelo durch die tausend Steinblöcke blindwütig, finsterglühend, in
immer fanatischerer Leidenschaft durch den dunklen Stollen ihres Daseins
dem funkelnden Gestein entgegen, das sie tief unten in ihren Träumen fühlen,
indes Goethe (wie Leonardo) die Kunst nur als einen Teil, als eine der tausend
schönen Formen des Lebens fühlt, die ihm teuer ist wie die Wissenschaft, wie
die Philosophie, aber doch nur Teil, ein kleiner wirkender Teil seines Lebens.
Darum werden die Formen der Dämonischen immer intensiver, jene Goethes
immer extensiver. Sie verwandeln ihr Wesen immer mehr in eine großartige
Einseitigkeit, eine radikale Unbedingtheit, Goethe das seine in eine immer
umfassendere Universalität.
Durch diese Liebe zum Dasein zielt alles beim antidämonischen Goethe auf
Sicherheit, auf weise Selbsterhaltung. Durch diese Verachtung des realen
Daseins drängt alles bei den Dämonischen zu Spiel, zu Gefahr, zu
gewaltsamer Selbsterweiterung und endet in Selbstvernichtung. Wie bei
Goethe alle Kräfte zentripetal, also vom Äußern zum Mittelpunkt hin sich
sammeln, so wirkt bei jenen der Machtdrang zentrifugal, aus dem innern
Kreis des Lebens herausdrängend und ihn unvermeidlich zerreißend. Und dies
Ausfließen – dies Überfließenwollen ins Gestaltlose, in den Weltraum,
sublimiert sich am sichtlichsten in ihrer Neigung zur Musik. Dort vermögen
sie ganz uferlos, ganz formlos sich auszuströmen in ihr Element: gerade im
Untergang geraten Hölderlin und Nietzsche, ja sogar der harte Kleist in ihre
Magie. Verstand löst sich vollkommen in Ekstase, die Sprache in den
Rhythmus: immer (auch bei Lenau) umbrandet Musik den Einsturz des
dämonischen Geistes. Goethe dagegen hat eine »vorsichtige Haltung« zur
Musik: er fürchtet ihre verlockende Kraft, den Willen ins Wesenlose
abzuziehen, und dämmt sie in seinen starken Stunden (selbst Beethoven)
gewaltsam zurück: nur in der Stunde der Schwachheit, der Krankheit, der
Liebe ist er ihr offen. Sein wahres Element aber ist Zeichnung, ist Plastik,
alles was feste Formen bietet, was Schranken stellt gegen das Vage, das
Gestaltlose, alles was das Zerfließen, Zergehen, Entströmen der Materie
hemmt. Lieben jene das, was entbindet, in eine Freiheit führt, ins Chaos des
Gefühls zurück, so greift sein wissender Selbstbewahrungstrieb nach allem,
was die Stabilität des Individuums fördert, nach Ordnung, Norm, Form und
Gesetz.
Mit hundert Gleichnissen könnte man diesen fruchtbaren Gegensatz
12
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199