Page - 22 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Herzens zurück: die Kindheit ist Hölderlins wahrste, wachste und glücklichste
Zeit.
Sanfte Natur hegt ihn ein, sanfte Frauen ziehen ihn auf: kein Vater ist
(verhängnisvollerweise) da, ihn Zucht und Härte zu lehren, nicht wie bei
Goethe zwingt früh pedantisch-zuchtvoller Sinn dem Werdenden das Gefühl
der Verantwortung auf. Nur Frommheit lehrt ihn die Großmutter und die
mildere Mutter, und früh schon flüchtet der träumerische Sinn in die erste
Unendlichkeit jeder Jugend: in die Musik. Aber die Idylle hat vorzeitig ihr
Ende. Mit vierzehn Jahren kommt der Empfindsame als Alumnus in die
Klosterschule von Denkendorf, dann in das Kloster von Maulbronn, als
Achtzehnjähriger in das Tübinger Stift, das er erst Ende 1792 verläßt – ein
ganzes Jahrzehnt fast wird diese freiselige Natur hinter Mauern gesperrt, in
klösterliches Gelaß, in drückende Menschengemeinsamkeit. Der Kontrast ist
zu vehement, um nicht schmerzhaft, ja zerstörend zu wirken: aus der
Ungezwungenheit freier sinnender Spiele an Ufer und Feld, aus der
Weichlichkeit fraulich-mütterlicher Behütung preßt man ihn in das mönchisch
schwarze Kleid, klösterliche Zucht schraubt ihn an einzelne Stunden
mechanisch geordneter Tätigkeit. Für Hölderlin werden die Klosterschuljahre,
was für Kleist die Kadettenjahre: Zurückdrängung des Gefühls ins Sensitive,
Vorbereitung und Überreizung stärkster innerer Spannung, Widerstand gegen
die reale Welt. Etwas in seinem Innern wird damals für immer verwundet und
geknickt: »Ich will Dir sagen«, schreibt er ein Jahrzehnt später, »ich habe
einen Ansatz von meinen Knabenjahren, von meinem damaligen Herzen, der
ist mir noch der liebste – das war eine wächserne Weichheit … aber eben
dieser Teil meines Herzens wurde am ärgsten mißhandelt, solange ich im
Kloster war.« Wie er das schwere Tor des Stifts hinter sich schließt, ist der
edelste, der geheimste Trieb seines Lebensglaubens schon vorzeitig
angekränkelt und halb verwelkt, bevor er hinaustritt in die Sonne des freien
Tages. Und schon schwebt um seine noch klare Jünglingsstirn – freilich ein
dünner floriger Hauch nur – jene leise Melancholie des Verlorenseins in die
Welt, die dann immer dunkler und dichter mit den Jahren die Seele
umdämmert und schließlich den Blick für jede Freudigkeit verschattet.
Hier also, so früh schon, im Zwielicht der Kindheit, in den entscheidenden
Formungsjahren beginnt jener unheilbare Riß in Hölderlins Innern, jene
unbarmherzige Zäsur zwischen der Welt und seiner eigenen Welt. Und dieser
Riß narbt niemals mehr zu: ewig bleibt ihm das Gefühl des in die Fremde
verstoßenen Kindes, ewig diese Sehnsucht nach einer früh verlorenen seligen
Heimat. Unablässig empfindet sich der ewig Unmündige aus den Himmeln –
seiner Jugend, erster Ahnung, unbekannter Vorwelt – gewaltsam auf die harte
Erde, in eine ihm widerstrebende Sphäre herabgeschleudert; und von jener
ersten harten Begegnung mit der Realität an schwärt in seiner verwundeten
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199