Page - 35 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 35 -
Text of the Page - 35 -
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe den Armen.
Wie in dem Goetheschen Diwan-Gedicht zerfällt die Welt in Nacht und
Licht, ehe die Morgenröte »sich der Qual erbarmt«, ehe ein Mittler beider
Sphären erscheint. Denn dieser Kosmos bliebe zwiefache Einsamkeit,
Einsamkeit der Götter und Einsamkeit der Menschen, erstünde nicht zwischen
ihnen flüchtig-seliges Band, spiegelte nicht die höhere die niedere Welt und
diese wieder die erhobene. Auch die Götter oben, die »selig wandernden im
Licht«, sind nicht glücklich, sie fühlen sich nicht, solange sie nicht gefühlt
werden:
Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die geweihten
Elemente zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen.
So drängt das Unten zum Oben, das Obere zum Untern, Geist zum Leben
und Leben empor in den Geist: alle Dinge der unsterblichen Natur sind ohne
Sinn, solange sie nicht von Sterblichen erkannt, solange sie nicht irdisch
geliebt werden. Die Rose wird erst wahrhaft zur Rose, wenn sie ein Blick
schauend in sich trinkt, die Abendröte erst Herrlichkeit, wenn sie in der
Retina eines Menschenauges widerleuchtet. Wie der Mensch das Göttliche,
um nicht zu vergehen, ebenso braucht das Göttliche, um wahrhaft zu sein, den
Menschen. So schafft er sich Zeugen seiner Macht, den Mund, der ihm
lobsinge, den Dichter, der ihn erst wahrhaft zum Gotte macht.
Diese Uridee der Hölderlinschen Anschauung mag – wie fast alle seine
poetischen Ideen – Entlehnung sein, eine Anleihe bei dem »kolossalischen
Geiste« Schillers. Aber wie geweitet ist die kalte Schillersche Erkenntnis:
Freundlos war der große Weltenmeister,
Fühlte Mangel – darum schuf er Geister,
Sel’ge Spiegel seiner Seligkeit
zu Hölderlins orphischer Vision von des Dichters Erweckung:
Und unaussprechlich wär und einsam
In seinem Dunkel umsonst, der doch
Der Zeichen genug und Wetterflammen
Und Fluten in seiner Macht,
Wie Gedanken hat, der heilige Vater,
Und nirgend fand er wahr sich unter den Lebenden wieder,
Wenn zum Gesange ein Herz nicht hätt’ die Gemeinde.
35
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199