Page - 41 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 41 -
Text of the Page - 41 -
des Lebens keimhaft trächtig eingemischt sind, neben diesem fruchtbaren
Gefilde, das von starker Hand tätig durchackert, wie ein offenes Feld Sonne
und Regen, alle Elemente des Himmels in sich einsaugt, erscheint Hölderlins
dichterischer Besitz durchaus arm: vielleicht ist niemals in der deutschen
Geistesgeschichte aus so wenigen dichterischen Urelementen ein so großer
Dichter geworden. Sein »Material« – wie man vom Sänger sagt – war
unzulänglich. Sein Vortrag alles. Er war schwächer als jeder andere: ihm aber
wuchs in der Seele Gewalt in die obere Welt. Seine Begabung hatte geringes
spezifisches Gewicht, aber einen unendlichen Auftrieb: Hölderlins Genie ist
im letzten nicht so sehr Genie der Kunst als vielmehr ein Wunder der
Reinheit. Sein Genius war die Begeisterung, die unsichtbare Schwinge.
Darum ist Hölderlins ursprüngliche Begabung nicht philologisch meßbar
weder im Sinne der Breite, noch in jenem der Fülle: Hölderlin ist vor allem
ein Intensitätsproblem. Seine dichterische Figur erscheint (im Vergleich zu
den andern mächtig und muskulös gebauten) durchaus schmächtig, er steht
neben Goethe, neben Schiller, den Wissenden und Vielfältigen, den
Stromhaften und Starken, so einfältig schlicht und scheinbar schwach, wie
Franciscus von Assisi, der sanfte, unwissende Heilige neben den riesigen
Pfeilern der Kirche, neben Thomas von Aquino, Sankt Bernhard, Loyola,
neben diesen großen Baumeistern des mittelalterlichen Doms. Wie jener hat
er nichts als die engelhaft klare Zärtlichkeit, als das ekstatische Brudergefühl
zum Element, aber auch die eminent franciscanische, die kampflose Kraft der
Begeisterung. Wie jener wird er Künstler ohne Kunst, nur durch den
evangelischen Glauben an die höhere Welt, nur durch eine gleich heldenhafte
Geste der Preisgabe wie jene des jungen Franciscus auf dem Marktplatz zu
Assisi.
Nicht also eine partielle Kraft, eine einzelne poetische Begabung
prädestiniert Hölderlin zum Dichter, sondern die Fähigkeit seiner
Zusammenfassung der ganzen Seele in einen gesteigerten Zustand, jene
einzige Gewalt der Erdflucht, des Sichverlierens ins Unendliche. Hölderlin
dichtet nicht aus dem Blut, aus dem Samen, aus den Nerven, aus dem
Sinnlichen, aus dem persönlichen, privaten Erlebnis, sondern aus einer
eingeborenen spasmischen Begeisterung, einer urtümlichen Sehnsucht nach
einem unerreichbaren Oben. Für ihn gibt es keinen einzelnen Anlaß des
Poetischen, weil er das ganze Universum dichterisch sieht. Die ganze Welt
erscheint ihm als ein ungeheures Heldengedicht, und was er von ihr
schildernd ergreift, Landschaft, Strom, Mensch und Gefühl, wird sogleich
unbewußt heroisiert. Der Äther ist ihm so sehr »Vater«, wie Franciscus die
Sonne der »Bruder«; Quelle und Stein öffnen sich ihm wie den Griechen als
atmende Lippe und gefangene Melodie. Auch das Nüchternste, das er
klingenden Wortes berührt, nimmt geheimnisvoll jener platonischen Welt
41
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199