Page - 42 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Wesenheit an, wird sofort transparent, zittert melodisch in einer Leuchtkraft
der Sprache, die mit der sachlichen des Tages nur die Vokabeln gemein hat:
ein neuer Glanz ist auf seinem Wort wie Morgentau auf einer Wiese, eine
Unberührtheit von allem Menschenblick. Niemals in der deutschen Literatur
war das Gedicht vor ihm oder nach ihm so durchaus flughaft, so aufgehoben
über die Erde. Darum erscheinen alle Wesen darin so, wie man sie im Traume
sieht, geheimnisvoll losgelöst von ihrer Schwerkraft, gleichsam als die Seelen
ihres Seins: niemals hat Hölderlin (das ist seine Größe und seine
Beschränkung) die Welt sehen gelernt. Er hat sie immer nur gedichtet.
Diese großartige Fähigkeit zum innern Aufschwung ist Hölderlins eigenste
und einzige Kraft; er gerät niemals hinein in das Untere, Gemengte, ins
taghaft Irdische des Lebens, sondern stößt sich flughaft in eine höhere Welt
(die ihm Heimat ist) empor. Er hat nicht die Wirklichkeit, aber er hat eine
eigene Sphäre, sein klingendes Jenseits. Immer zielt er nach oben:
O Melodien über mir, ihr unendlichen,
Zu euch, zu euch,
immer stößt er sich wie ein Pfeil vom gespannten Bogen in das
Himmlische, ins Unsichtbare empor. Daß eine solche Natur nun ständig
gespannt, ja in einem gefährlichen Zustand idealischer Überspanntheit sein
mußte, bezeugen schon früheste Berichte. Schiller bemerkt sofort, mehr
tadelnd als bewundernd, diese Heftigkeit der Ausbrüche und bedauert den
Mangel an Stetigkeit, an Gründlichkeit. Aber für Hölderlin sind jene
»namenlosen Begeisterungen, wo das irdische Leben tot und die Zeit nicht
mehr ist und der entfesselte Geist zum Gotte wird«, diese spasmischen
Zustände der Selbstentrückung, Urelement. »Ewig Ebb und Flut«, kann er nur
mit der ganzen zusammengefaßten Seelenkraft Dichter sein. Ohne Inspiration,
in den sachlichen Stunden seines Lebens ist Hölderlin der ärmste, der
gebundenste, der düsterste, in der Begeisterung der seligste, der freieste aller
Menschen.
Diese Begeisterung Hölderlins ist nun eigentlich substanzlos: ihr Inhalt ist
gleichsam der Zustand selbst. Er gerät nur in Begeisterung, wenn er die
Begeisterung singt. Sie ist für ihn Subjekt und Objekt zugleich, formlos, weil
höchste Fülle, konturlos, weil aus dem Ewigen stammend und ins Ewige
zurückfließend: selbst bei Shelley, dem ihm verwandtesten lyrischen Geist,
erscheint die Begeisterung noch eher irdisch gebunden. Ihm identifiziert sie
sich noch mit sozialen Idealen, mit dem Glauben an Menschenfreiheit, an eine
Entwicklung der Welt. Hölderlins Begeisterung aber geht wie Rauch in den
Himmel ganz ins Ephemere, sie schildert sich, indem sie sich genießt, und sie
genießt sich durch Schilderung. Darum stellt Hölderlin unaufhörlich diesen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199