Page - 45 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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oder eine pathologische Düsternis des Geistes. Auch sie strömt und nährt sich
wie die Ekstase einzig aus sich selbst; auch sie hat wenig Zustrom vom
Erlebnis (man überschätze die Diotima-Episode nicht!). Seine Schwermut ist
nichts anderes als sein Reaktionszustand auf die Ekstase und
notwendigerweise unproduktiv, fühlt er sich dort, aufschwingend,
Unendlichem verwandt, so wird ihm im unproduktiven Zustand seine
ungeheure Fremdheit zum Leben bewußt. Und so möchte ich seine
Schwermut nennen: ein namenloses Fremdheitsgefühl, die Trauer eines
verlorenen Engels um seine Himmel, ein kindlich klagendes Heimweh nach
der unsichtbaren Heimat. Niemals versucht Hölderlin diese Schwermütigkeit
über sich hinaus wie Leopardi, wie Schopenhauer, wie Byron zu einem
Weltpessimismus zu dehnen (»Der Menschenfeindschaft bin ich feind«), nie
wagt seine Frommheit irgendeinen Teil des heiligen Alls als sinnlos zu
verneinen: nur sich fühlt er fremd im realen, im praktischen Leben. Er hat
keine andere wahre Sprache zu den Menschen als den Gesang: im einfachen
Wort, in der Konversation kann er nichts von seinem Wesen verständlich
machen; nur von oben herab wie Engelflug kann der Geist ihn überkommen.
Ohne die Ekstase aber irrt er, ein »Blindgeschlagener«, durch die entgötterte
Welt. »Pan ist für ihn tot, wenn Psyche stirbt«, das Leben ein grauer Haufen
Schlacke ohne die Feuerflamme des »blühenden Geistes«. Seine Trauer aber
ist machtlos wider die Welt, seine Schwermut ohne Musik: Dichter des
Morgenrots, bleibt er stumm in der Dämmerung.
Der ihn am nächsten kannte und ihn oft in den Tagen des verdunkelten
Geistes gesehen, Waiblinger, hat ihn Phaethon genannt in einem Roman.
Phaethon – so bildeten die Griechen den schönen Jüngling, der auf dem
feurigen Wagen des Gesangs zu den Göttern sich schwingt. Sie lassen ihn nah
heran, ein Streif von Licht klingt sein tönender Flug durch die Himmel – dann
stürzen sie ihn mitleidlos ins Dunkle hinab. Die Götter strafen, die sich
erkühnen, ihnen zu sehr zu nahen: sie zerschmettern ihren Leib, blenden ihren
Blick und werfen die Kühnen in den Abgrund des Schicksals. Aber sie lieben
die Verwegenen zugleich, die ihnen entgegenbrennen, und setzen ihren
Namen dann, heiliger Ehrfurcht zum Beispiel, als reine Bildgestalt unter ihre
ewigen Sterne.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199