Page - 47 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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in dieser ersten Krise nicht bewußt sein, daß nur eine innere Dämonie ihm
eifersüchtig jede weltliche Beziehung unhaltbar macht, noch benennt er, was
die immanente Entzündlichkeit seines Triebwillens ist, mit äußeren Ursachen:
diesmal ist es die Verstocktheit des Knaben, sein heimliches Laster, das er
nicht bändigen kann. Man fühle daran Hölderlins ganze Unfähigkeit zum
Leben: ein neunjähriger Knabe ist stärker im Willen als er. So läßt er die
Stellung. Charlotte von Kalb, die im vollsten Verstehen ihn scheiden sieht,
schreibt der Mutter (um sie zu trösten) die tiefere Wahrheit. »Sein Geist kann
sich zu dieser kleinlichen Mühe nicht herablassen … oder vielmehr sein
Gemüt wird zu sehr davon affiziert.«
Von innen heraus zerstört Hölderlin also alle ihm gebotenen Lebensformen:
nichts ist darum psychologisch falscher als die umgängige sentimentale
Auffassung der Biographen, Hölderlin sei überall erniedrigt und beleidigt
worden. In Wahrheit versuchte man ihn immer und überall zu schonen. Aber
seine Haut war zu dünn, seine Empfindsamkeit überreizt: »sein Gemüt wurde
zu sehr affiziert«. Was Stendhal einmal von seinem Spiegelbild Henri Brulard
sagt: »Ce qui ne fait qu’effleurer les autres me blesse jusqu’au sang«, gilt für
ihn und alle Empfindsamen. Wirklichkeit empfand er schon an und für sich
als Feindseligkeit, die Welt als Brutalität, Abhängigkeit als Knechtschaft. Nur
dichterischer Zustand kann ihn glücklich machen, außerhalb dieser Sphäre
vermag Hölderlins Atem nicht ruhig zu gehen, er schlägt um sich und würgt
an der irdischen Luft wie ein Erstickender. »Warum bin ich denn friedlich und
gut wie ein Kind, wenn ich ungestört mit süßer Muße das unschuldigste aller
Geschäfte treibe?« staunt er selbst, von dem ewigen Konflikt erschreckt, mit
dem ihn jede Begegnung befällt. Noch weiß er es nicht, daß seine
Lebensuntüchtigkeit eine unheilbare ist, noch glaubt er, daß »Freiheit«, daß
»Dichtung« ihn der Welt verbinden könne. So wagt er sich in eine
ungebundene Existenz: hoffnungsvoll durch begonnenes Werk versucht es
Hölderlin mit der Freiheit. Freudig bezahlt er mit bitterer Entbehrung das
Leben im Geiste. Im Winter verbringt er ganze Tage im Bett, um Holz zu
sparen, nie gönnt er sich mehr als eine Mahlzeit des Tags, verzichtet auf Wein
und Bier, auf die bescheidenste Vergnügung. Von Jena sieht er kaum mehr als
Fichtes Kolleg, manchmal gönnt ihm Schiller eine Stunde bei sich, sonst
wohnt er einsam in ärmlicher Bettstelle (kaum eine Kammer zu nennen).
Seine Seele aber wandert mit Hyperion nach Griechenland, und er könnte sich
selig nennen, wäre nicht von innen her ihm immer wieder Unrast und ewiger
Aufbruch bestimmt.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199