Page - 57 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Eine Botin, eine Schwester, eine aus seiner Welt Verirrte, so sieht
Hölderlin, der heilige Schwärmer, seines Brotherrn Frau: kein sinnlicher
Gedanke des Besitzes mengt sich diesem Verwandtschaftsgefühl. In
seltsamem Parallelismus zu Goethes Versen an Charlotte von Stein:
Ach, Du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau,
grüßt er Diotima als Langgeahnte, als Schwester einer magischen
Präexistenz:
Diotima! Edles Leben,
Schwester, heilig mir verwandt!
Eh ich Dir die Hand gegeben,
Hab ich ferne Dich gekannt.
Hier sieht sein trunkener Überschwang zum erstenmal in der zerstückten,
verdorbenen Welt den gebundenen Menschen, das »Eins und alles« –
»Lieblichkeit und Hoheit und Ruh und Leben und Geist und Gemüt und
Gestalt ist Ein seliges Eins in diesem Wesen«, und zum erstenmal orgelt aus
einem Briefe Hölderlins das Wort Glück mit unendlicher Seelengewalt empor.
»Noch bin ich immer glücklich wie im ersten Moment. Es ist eine ewige
fröhliche heilige Freundschaft mit einem Wesen, das sich recht in dies arme,
geist- und ordnungslose Jahrhundert verirrt hat. Mein Schönheitssinn ist nun
vor Störung sicher. Er orientiert sich ewig an diesem Madonnenkopfe. Mein
Verstand geht in die Schule bei ihr, und mein uneinig Gemüt besänftigt,
erheitert sich täglich in ihrem genügsamen Frieden.«
Das nun ist die ungeheure Gewalt, die Hölderlin an dieser Frau erfährt:
Beruhigung. Ein Hölderlin, der Urekstatiker, braucht nicht Glut an einer Frau
zu lernen – Glück für diesen ewig Feurigen ist Entspannung, die unendliche
Wohltat des Ruhendürfens. Und das ist Diotimas Gnade an ihn: Mäßigung.
Sie vermag, was Schiller, was der Mutter, was niemandem gelang, den
»geheimnisvollen Geist der Unrast« durch Melodie zu zähmen. Man ahnt ihre
sorglich gebreitete Hand, ihre mütterlich sorgende Zärtlichkeit aus den Zeiten
des Hyperion, »wenn sie immer mit Rat und freundlichen Ermahnungen
versucht, ein ordentlich und fröhlich Wesen aus mir zu machen, wenn sie die
düsteren Locken und das alternde Gewand und die zernagten Nägel mir
verwies«. Wie ein ungeduldiges Kind behütet sie ihn zärtlich, der ihre Kinder
behüten soll, und diese Ruhe um ihn, diese Ruhe in ihm ist Hölderlins
Seligkeit. »Du weißt ja, wie ich war«, schreibt er dem vertrauten Freunde,
»weißt ja, wie ich ohne Glauben lebte, wie ich so karg geworden war mit
meinem Herzen, und darum so elend; könnt ich werden, wie ich jetzt bin, froh
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199