Page - 72 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Den Licht und Erde liebten, dem der Geist,
Der Geist der Welt, den eignen Geist erweckte.
Aus dem Vorgefühl des Todes trinkt er die letzte, die höchste der
Begeisterungen: wie dem Schwan in der Sterbestunde bricht dem
Verschlossenen noch einmal die Seele auf in Musik … in Musik, die herrlich
anhebt und nicht endet. Denn hier setzt die Tragödie ab, oder vielmehr sie
verschwebt. Über diese Seligkeit der Selbstauflösung war Hölderlin
Steigerung nicht mehr möglich – nur von unten antwortet noch erzener Chor
der entschwindenden, gleichsam in den Äther sich lösenden Stimme des
Erlösten, die Ananke lobpreisend, die ewige Notwendigkeit:
So mußt es geschehen,
So will es der Geist
Und die reifende Zeit,
Denn einmal bedurften
Wir Blinden des Wunders.
Und erhaben abschließend, preist der Gegengesang das Unbegreifliche:
Groß ist seine Gottheit
Und der Geopferte ist groß.
Mit seinem letzten Wort, mit seinem letzten Atem ist Hölderlin noch
Lobkünder des Schicksals, unerschütterlich frommer Diener der heiligen
Notwendigkeit.
Niemals war der Dichter bei Hölderlin, der hohe Gestalter so nahe der
griechischen Welt wie in dieser Tragödie, die mit ihrem Zwiesinn von
Opferhandlung und festlicher Erhebung stärker und reiner als irgendeine
andere deutsche die heroische Höhe der Antike erreicht. Was Goethe im Tasso
mißlungen, weil er des Dichters Qual nur in bürgerlichen Nöten faßte, im
Ressentiment der Eitelkeit, des Klassendünkels und überheblichen
Liebeswahns, das wird hier durch Reinheit des tragischen Elements mythisch
wahr: Empedokles ist als Genius vollkommen entpersönlicht und seine
Tragödie die Tragödie der Dichtung, des Schaffens schlechthin. Nicht ein
Staubkorn eitler Episode, nicht ein Fleckchen theatralischen Füllsels
beschmutzen den rauschenden Faltenwurf dieses dramatischen Schreitens,
keine Frauen hemmen mit erotischer Verstrickung den Aufstieg, nicht Diener
und Knechte mengen sich ein in den furchtbaren Konflikt des Einsamen mit
den geliebten Göttern: wie bei der Frommheit Dantes, Calderons und der
Antike ist ungeheurer Raum gläubig aufgeschlagen über dem einzelnen
Geschick, und so steht es zwischen dem offenen Himmel der Zeiten. Keine
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199