Page - 83 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Die Schwinge ist gebrochen, und er, der nur im Fluge, im dichterischen
Aufschwung wahrhaft lebt, findet sein Gleichgewicht nicht mehr. Nun muß er
es bezahlen, »nicht bloß mit der Oberfläche des Wesens beschäftigt« gewesen
zu sein, sondern »die ganze Seele, sei es in Liebe, sei es in Arbeit, der
zerstörenden Wirklichkeit ausgesetzt zu haben«. Das Strahlende, die Aureole
des Genius ist von seiner Stirn gewichen, er drückt sich ängstlich in sich
selber hinein, um sich vor den Menschen zu verbergen, deren Umgang ihm
fast physisch peinlich ist. Je schwächer die Kraft in ihm wird, sich
zusammenzuhalten, um so stärker springt aus den Nerven der zuckende
Dämon. Allmählich wird Hölderlins Sensibilität krankhaft, seine seelischen
Aufschwünge zu körperlichem Ausbruch. Jede Kleinigkeit kann ihn reizbar
machen und die geflissentliche Demut, die er wie einen Panzer schützend um
sich getan, zerbrechen, überall meint der Überempfindsame und
Zurückgestoßene »Beleidigungen, Druck der Verachtung« zu erfahren. Auch
der Körper reagiert mit Abspannungen und Ausbrüchen schärfer auf jede
atmosphärische Veränderung: was ursprünglich nur ein »heiliges Ungenügen«
des Geistes war, wird neurasthenische Unlust des ganzen Wesens, Krise und
Katastrophe der Nerven. Immer fahriger werden seine Gebärden, immer
sprunghafter seine Stimmungen, und schon beginnt das einst so klare Auge
unruhig über den eingefallenen Wangen zu flackern. Unaufhaltsam breitet
sich der Brand über sein ganzes Wesen hin aus, der Dämon gewinnt immer
mehr Macht über sein Opfer, er wird zu »einer betäubenden Unruhe«, die sich
»um sein Inneres häuft« – nun jagt er ihn von einem Extrem ins andere, von
Heiß zu Kalt, von Ekstase zu Verzweiflung, von silbernem Gottgefühl zur
schwärzesten Schwermut, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Die fiebrige
Irritation zuckt von den Nerven hinüber in die Gedanken: schließlich greift
die Entzündung bis ins Dichterische über, das Unstete des Menschen wird in
der Inkohärenz des Dichters immer erkenntlicher, in der Unfähigkeit, bei
einem einzelnen Gedanken zu verweilen und ihn logisch zu entwickeln. Auch
hier jagt er wie dort von Haus zu Haus, fiebrig weiter von Bild zu Bild, von
Idee zu Idee. Und dieser dämonische Brand beruhigt sich nicht eher, bis das
ganze Innere Hölderlins ausgebrannt und nichts mehr bleibt als das
geschwärzte Gerüst seines Körpers.
So gibt es in der Pathologie Hölderlins keinen deutlich markierten
Zusammenbruch, keine scharfe Grenzlinie von geistig gesund und geistig
erkrankt. Hölderlin brennt ganz allmählich innen aus, die dämonische Macht
verzehrt seine wache Vernunft nicht plötzlich wie ein Waldbrand, sondern wie
ersticktes kohlendes Feuer. Nur ein Teil, eben der göttliche seines Wesens und
der dem Dichterischen am meisten verbundene, widersteht wie Asbest: sein
dichterischer Tiefsinn überlebt den Wahnsinn, die Melodie die Logik, der
Rhythmus das Wort: so ist Hölderlin vielleicht der einzige klinische Fall, wo
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199