Page - 94 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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April und Mai und Junius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.
Das sind Verse nicht so sehr eines Irren, als eines Kinddichters, eines
geistig ganz zum Kinde gewordenen großen Dichters; sie haben das Naive
und Zwanglose infantiler Anschauung, niemals aber etwas Abruptes und
Monströses, eine närrische Überstiegenheit. Wie in der Fibel reiht sich Bild
an Bild, und mit der Naivität des Klapphornverses reimt sich die erhoben
gesprochene Zeile. Kann ein Kind, ein siebenjähriges, eine Landschaft reiner
und einfältiger sehen als Scardanelli, wenn er dichtet:
Oh, vor diesem sanften Bilde,
Wo die grünen Bäume stehn,
Wie vor einer Schenke Schilde,
Kann ich kaum vorübergehn.
Denn die Ruh an stillen Tagen
Dünkt entschieden trefflich mir.
Dieses mußt du gar nicht fragen,
Wenn ich soll antworten dir.
Ohne Nachdenklichkeit, ganz nur vom zufälligen Wind des Gefühls
getrieben, absolut improvisatorisch also, schweben Bilder musikalisch auf
und vorbei, Spiel eines seligen Kindes, das nichts vom Wirklichen weiß als
die Farben und die Klänge, das lose Verbundene der Formen. Wie eine Uhr,
deren Zeiger zerbrochen sind und in der innen noch das Werk sinnlos
weitertickt, so dichtet Scardanelli-Hölderlin ins Leere einer erloschenen Welt
hinein: Atmen ist für ihn Dichten. Der Rhythmus überlebt in ihm den
Verstand, die Poesie das Leben: so erfüllt sich in furchtbar tragischer
Verzerrung doch noch der tiefste Wunsch seines Lebens, ganz Dichtung zu
werden, mit der ganzen Existenz restlos im Poetischen aufzugehen. Der
Mensch in ihm stirbt vor dem Dichter, die Vernunft vor der Melodie; und Tod
und Leben zusammen gestalten ihm bildnerisch als Schicksal, was einstens
sein seherischer Wunsch als das wahre Ende der wahren Dichter gekündet:
»In Flammen verzehrt die Flamme zu büßen, die wir nicht zu bändigen
vermocht.«
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199