Page - 101 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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erscheint er immer nur von innen.
Das kam, weil seine Schale zu hart war (und dies ist ja in nuce die Tragödie
seiner Existenz). Er hielt alles verschlossen in sich selbst. Seine
Leidenschaften zuckten nicht hinauf bis in die Augen. Seine Ausbrüche
zerbrachen unter der Lippe vor dem ersten Wort. Er sprach wenig, vielleicht
aus Scham, weil seine Zunge schwer und stammerig ging, wahrscheinlich
auch aus einer Unfreiheit des Gefühls, einer gewaltsamen Zugesperrtheit.
Erschütternd hat er selbst diese Unfähigkeit zur Rede, dieses heiße Siegel
auf seiner Lippe, in einem Briefe bekannt. »Es fehlt«, schreibt er, »an einem
Mittel zur Mitteilung. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt
nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur
zerrissene Bruchstücke. Deshalb habe ich jedesmal eine Empfindung wie ein
Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll.« So blieb er
stumm, nicht aus Tumbheit oder Trägheit, sondern aus einer übermächtigen
Keuschheit des Gefühls, und dies Schweigen, dies dumpfe, brütende, lastende
Schweigen, mit dem er stundenlang zwischen den andern saß, war das
einzige, was den Menschen an ihm auffiel, und dann noch eine gewisse
Abwesenheit des Geistes, ein Verwölktsein mitten am klaren Tag. Er brach oft
plötzlich ab in der Rede und starrte vor sich hin (immer hinein in den
unsichtbaren Abgrund tief innen), und Wieland erzählt, daß er »bei Tische
sehr häufig zwischen den Zähnen mit sich murmelte und dabei das Air eines
Menschen hatte, der sich allein glaubt oder mit seinen Gedanken an einem
anderen Ort oder mit ganz anderem Gegenstand beschäftigt ist«. Er konnte
nicht plaudern und unbefangen sein, alles Konventionelle und Verbindliche
fehlte ihm dermaßen, daß die einen »etwas Finsteres und Sonderbares« in
dem steinernen Gaste unbehaglich ahnten, indes die andern seine Schärfe,
sein Zynismus, seine gewaltsame Überwahrheit verdroß (wenn er einmal,
durch sein eigenes Schweigen gereizt, aus sich gewaltsam vorbrach). Es
wehte keine weiche Luft des Gespräches um sein Wesen, keine
anschmiegende Sympathie strahlte von Antlitz und Wort. Die ihn noch am
besten verstand, Rahel, hat es am besten gesagt, »es ging streng um ihn her«.
Auch sie, die sonst so Schildernde und Erzählende, zeigt ihn nur von innen,
nur die Atmosphäre seines Wesens, nicht seines Wesens plastisches Bild. So
bleibt er uns der unsichtbare, der »unaussprechliche« Mensch.
Die meisten, die ihm begegneten, bemerkten ihn nicht, oder sie bogen an
ihm vorbei mit einem Gefühl von Grauen und Peinlichkeit. Die ihn kannten,
liebten ihn, und die ihn liebten, liebten ihn mit Leidenschaft: doch auch ihnen
streifte in seiner Gegenwart noch kalt eine geheime Angst über die Seele und
hinderte ihnen Herz und Hand. Wem der Verschlossene sich auftat, dem
zeigte er seine ganze Tiefe. Aber jeder fühlte sogleich, daß diese Tiefe ein
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199